Der Prozess, der nie zur Ruhe kommt
Vier Jahre nach dem spektakulären Zusammenbruch von Wirecard sitzt der wohl größte Wirtschaftsskandal Deutschlands noch immer auf der Anklagebank. Der seit zwei Jahren andauernde Prozess im Münchner Hochsicherheitsgericht liefert zunehmend ein Bild von Machtmissbrauch, krimineller Energie – und offenkundigen Lücken in der Aufklärung.
Der Fokus liegt nach wie vor auf Markus Braun, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden, der als treibende Kraft hinter den gefälschten Bilanzen gesehen wird. Doch die jüngsten Entwicklungen lenken die Aufmerksamkeit auf einen anderen zentralen Akteur: Jan Marsalek.
Der einstige Wirecard-Vorstand ist nicht nur flüchtig, sondern wird inzwischen mit einem Netz von Spionageaktivitäten in Verbindung gebracht, das weit über die Grenzen der Finanzwelt hinausgeht.
Marsalek: Von Vorstand zum Schattenagenten
Jan Marsaleks mutmaßliche Rolle in einem Spionagering ist inzwischen gut dokumentiert. Recherchen des Bayerischen Rundfunks und des Spiegel enthüllten, dass Marsalek nach seiner Flucht enge Verbindungen zu russischen Geheimdiensten unterhielt. Er soll russlandkritische Journalisten ausspioniert und sogar Entführungspläne gegen westliche Ziele unterstützt haben.
Geld aus Wirecard-Transaktionen floss offenbar an Unternehmen, die in dieses Spionagenetz eingebunden waren. Damit eröffnen sich neue Fragen: Könnten diese Gelder direkt aus dem angeblich erfundenen Drittpartnergeschäft stammen? Und vor allem: Wusste Markus Braun davon?
Brauns Verteidigerin, Theres Kraußlach, sieht hierin eine Möglichkeit, ihren Mandanten zu entlasten.
„Wir möchten zeigen, dass Herr Dr. Braun in die Veruntreuung der Gelder nicht involviert war und keinerlei Kenntnis davon hatte“, erklärte sie.
Der Antrag, Marsaleks Spionagetätigkeiten in den Prozess einzubeziehen, soll diese Verbindung untermauern.
Der Drahtseilakt der Verteidigung
Die Verteidigung Brauns setzt alles daran, die Verantwortung auf Marsalek und den Kronzeugen Oliver Bellenhaus zu schieben. Letzterer hatte sich 2020 den Behörden gestellt und umfangreich ausgesagt, was ihn vorübergehend aus der Untersuchungshaft entließ.
Doch selbst Bellenhaus’ Darstellungen bleiben widersprüchlich, insbesondere in Bezug auf die angeblichen Treuhandkonten, auf denen Milliarden Euro lagen, die später als nie existent entlarvt wurden.
Markus Braun beteuert weiterhin seine Unschuld und behauptet, Opfer eines groß angelegten Betrugs innerhalb seines eigenen Unternehmens zu sein. Doch Richter Markus Födisch zeigte sich zuletzt skeptisch.
Brauns bisheriger Verteidiger Alfred Dierlamm gab im Sommer 2024 sein Mandat auf, nachdem die Kosten nicht mehr gedeckt wurden – ein Rückschlag, den die Verteidigung erst mühsam kompensieren konnte.
Was die neuen Enthüllungen bedeuten
Die Rolle Marsaleks könnte das Verfahren entscheidend beeinflussen, denn sie lenkt den Fokus weg von Braun hin zu den undurchsichtigen Zahlungsströmen innerhalb des Wirecard-Kosmos. Gleichzeitig bleibt fraglich, ob die Enthüllungen wirklich zur Entlastung Brauns beitragen.
Insolvenzverwalter Michael Jaffé, dessen Aussagen für 2025 erwartet werden, stützt die Theorie, dass das Drittpartnergeschäft nie existiert hat – eine Hypothese, die Braun direkt belastet.
Interessant ist auch der internationale Kontext. Deutsche Behörden hatten im vergangenen Sommer versucht, Marsalek über einen Gefangenenaustausch mit Russland zurückzuholen. Doch die russische Regierung verweigerte die Auslieferung des Flüchtigen, der sich angeblich unter dem Schutz des Kremls befindet.
Was kommt als Nächstes?
Das kommende Jahr wird entscheidend für den Wirecard-Prozess. Im Februar 2025 soll Hildegard Bäumler-Hösl, die leitende Oberstaatsanwältin, ihre Sicht auf die ersten Verhöre der Angeklagten schildern. Parallel dazu drängt die Verteidigung auf eine Ausweitung der Ermittlungen zu den Zahlungsflüssen rund um die Drittpartner.
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