Sie waren das Gesicht einer neuen Ära – Digital Natives, die Plattformen skalieren konnten, Millionen verbrennen durften und trotzdem als Sieger galten. Heute zieht es sie dorthin, wo jahrzehntelang Maschinen liefen, keine Likes.
Wo Nachfolger fehlen, aber oft mehr Substanz steckt als in so mancher schicken PowerPoint: in den Werkshallen, Büros und Fertigungsbetrieben des deutschen Mittelstands.
Vom Zalando-Office in die Maschinenhalle
Pia Surhoff und Norma Bühling wissen, wie digitale Wachstumsmodelle funktionieren. Als Managerinnen beim Modehändler Zalando haben sie bewiesen, dass sie neue Geschäftszweige aufbauen können.
Jetzt wollen sie genau das – aber mit dem Fundament einer etablierten Firma. Seit über einem Jahr schreiben sie Mittelständler in ganz Deutschland an, treffen Eigentümer, die in Rente gehen wollen – und suchen ein Unternehmen, das sie übernehmen und führen können.
Ihr Ziel: Kein Start-up, sondern ein solider Betrieb mit Bestandskunden, eingespieltem Team und echter Wertschöpfung. Kein Scaling auf Pump, sondern nachhaltiges Wachstum. Sie stehen nicht allein.
Fonds für die Provinz
Hinter der neuen Lust auf Familienunternehmen steckt mehr als persönliche Sehnsucht nach Sinn. In Berlin und München entstehen gerade spezialisierte Fonds, die genau dieses Modell finanzieren: Start-up-erprobte Manager übernehmen profitable Unternehmen in Nachfolgekrisen – mit Kapital, das sie sich für diese Deals sichern.

Auch ehemalige Gründer, Ex-Investoren und Digital-Veteranen wie der frühere Zalando-Co-CEO Rubin Ritter sind in Gesprächen über entsprechende Vehikel.
Der Gedanke: Warum in überfüllte Märkte investieren oder auf unprofitable Innovationen wetten, wenn Tausende Mittelständler stabile Cashflows liefern – und bald neue Chefs brauchen?
Ein strukturelles Problem trifft auf eine neue Generation
Laut KfW droht rund 600.000 Unternehmen in den kommenden fünf Jahren eine ungeklärte Nachfolge. Gleichzeitig wächst das Interesse an „Entrepreneurship durch Übernahme“ – vor allem bei Menschen, die zwar Unternehmertum wollen, aber nicht unbedingt bei null anfangen möchten. Was in den USA längst gängige Praxis ist, fasst nun auch hierzulande Fuß.
Der Reiz liegt im Bestehenden: Maschinenparks, Kundennetzwerke, loyale Belegschaften – aber eben auch Prozesse, die digital oft noch unberührt sind.
Genau hier setzen die ehemaligen Start-up-Manager an: Sie bringen Know-how in E-Commerce, Automatisierung und Datenanalyse – und sehen Digitalisierung nicht als Selbstzweck, sondern als Werkzeug für Substanz.
Was Berliner Gründer vom Mittelstand lernen wollen
Die Bewegung ist auch ein Kulturwechsel. Lange galt der deutsche Mittelstand in der Berliner Szene als altmodisch. Jetzt wird er zur Projektionsfläche für etwas, das vielen Gründern nach Jahren im digitalen Hyperraum fehlt: echte Wirkung, Wertschöpfung, Verantwortung.
Statt Quartals-OKRs geht es nun um Mitarbeiterführung, Übergabeprozesse – und langfristige Stabilität. Wer sich heute ein Unternehmen kauft, plant nicht den Exit in drei Jahren, sondern den Aufbau in dreißig.
Was dem Mittelstand droht – und was er gewinnen kann
Für die Firmen, um die es hier geht, ist das eine Chance – aber auch ein Risiko. Nicht jeder Ex-Digitalmanager eignet sich als Chef eines Zerspanungsbetriebs.
Wer nur KPI-Dashboards kennt, wird scheitern an Tarifverhandlungen, Maschinenwartung und dem Betriebsrat. Aber genau deshalb gehen viele dieser neuen Käufer heute viel methodischer vor als noch vor fünf Jahren.
Sie lassen sich coachen, suchen Mentoren aus der Industrie – und verzichten bewusst auf Investorengeld, das schnelle Rendite erwartet. Denn wer eine mittelständische Firma übernimmt, braucht vor allem eines: Zeit.
Ein Generationenwechsel mit Symbolkraft
Was sich hier abzeichnet, ist mehr als ein Karrieretrend. Es ist ein stiller Paradigmenwechsel. Der Mittelstand wird zum neuen Spielfeld der Digitalelite. Nicht weil dort weniger Risiko lauert – sondern weil er greifbarer geworden ist. Weil er echte Verantwortung fordert, nicht nur gute Pitches.
Und weil er genau das bietet, wonach viele in der digitalen Welt insgeheim suchen: Sinn, Substanz und ein Geschäftsmodell, das auch dann noch läuft, wenn das WLAN mal ausfällt.
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