In Kiew und vielen anderen ukrainischen Städten wird das Leben für wehrpflichtige Männer zu einem Versteckspiel. Seitdem die ukrainische Regierung das Einberufungsalter gesenkt und Meldepflichten verschärft hat, sind immer mehr Männer untergetaucht, um der Einberufung zu entgehen.
Sie verlassen ihre Wohnungen kaum, meiden öffentliche Plätze und nutzen Netzwerke auf WhatsApp und Telegram, um sich gegenseitig vor Kontrollen zu warnen. Der Krieg hat die Front auch in ihre eigene Nachbarschaft verlagert.
„So viele sind nicht zurückgekommen“, sagt ein Mann aus einem Vorort von Kiew, der für diesen Artikel anonym bleiben möchte.
Der Familienvater verlässt seine Wohnung nur noch, um seinen Sohn zur Schule zu bringen und wieder abzuholen.
„Ich sehe Männer ohne Arme und Beine auf den Straßen.
Ich will nicht auch einer von ihnen sein.“ Über sein Handy zeigt er, wie die Warnmeldungen in seiner Gruppe funktionieren: „Sonnig“ bedeutet, der Weg ist sicher; „regnerisch“ warnt vor einer Polizeikontrolle.
Ein System aus Warnnetzwerken und stillen Straßen
Diese Chatgruppen, in denen „Sonnig“ oder „Regnerisch“ über den Alltag entscheidet, sind in der Ukraine längst verbreitet. Sie decken ganze Stadtteile ab und helfen Hunderttausenden Männern, den Behörden zu entkommen.
Schätzungen gehen von 800.000 Männern aus, die inoffiziell arbeiten oder keine gültige Meldeadresse mehr haben, um der Einberufung zu entgehen.
Die Behörden stehen vor einem Dilemma: Obwohl die Lage an der Front drängt, wächst die Zahl derer, die das eigene Zuhause zur Zuflucht machen.
Die Regierung setzt verstärkt auf Kontrollen in Cafés, Bars und öffentlichen Plätzen. Männer, die keine gültigen Dokumente vorzeigen können, erhalten in den meisten Fällen einen Termin im nächstgelegenen Rekrutierungszentrum.
Doch die Kontrolle allein reicht nicht aus, um das Defizit an der Front zu füllen. Die Behörden rekrutieren monatlich etwa 30.000 Männer, um die Truppen aufzufüllen.
Doch das reicht kaum aus. Die Verteidigungsministerien fordern doppelt so viele Soldaten, um die schweren Verluste der letzten Monate zu kompensieren.
Die Front bleibt unter Druck, der Nachschub stockt
Während Kiew verzweifelt neue Rekruten braucht, um den Druck an den Fronten im Osten und Süden standzuhalten, ist die Begeisterung für den Kriegsdienst im Land gespalten.
Viele, wie unser Gesprächspartner aus Kiew, sehen die Einberufung skeptisch. Er erzählt von einem Mangel an Ausrüstung, schlechten Ausbildungsstandards und einer Armee, die es kaum schaffe, ihre Soldaten adäquat zu versorgen.
„Es gibt nicht genug Waffen, und viele der Rekruten haben kaum Training. Die Kommandeure sind überfordert, die Strukturen oft chaotisch.“
Seine Worte sind kritisch, seine Sorge echt: „Warum sollte ich mein Leben für etwas riskieren, das nicht funktioniert?“
Die Regierung steckt in einem Dilemma. Die Frontlage bleibt angespannt, russische Truppen setzen ihre Offensiven in der Ostukraine fort und erobern dabei Stück für Stück Territorium zurück. Der ukrainische Generalstab spricht von einem der intensivsten Angriffe seit Kriegsbeginn.
Die Verluste auf beiden Seiten sind hoch, doch das zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischen den Armeen könnte langfristig zum Problem für die Ukraine werden.
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Wenn der Krieg in die eigene Wohnung zieht
In dieser Situation gibt es auch in Kiew Menschen, die aus der Not anderer ein Geschäft gemacht haben. Ein Lieferdienstfahrer berichtet, dass die Nachfrage nach Lebensmittellieferungen spürbar angestiegen sei, seitdem das neue Mobilisierungsgesetz gilt.
„Manche bestellen alles, was sie für den Tag brauchen, bis hin zum Abendessen“, erzählt er. Ob seine Kunden sich vor der Armee verstecken, wisse er nicht genau, aber die Vermutung liege nahe.
Für viele bleibt die Lage eine Frage der Perspektive. Die Armee sieht in den untergetauchten Männern ein ungenutztes Potenzial, das die dringend benötigte Verstärkung an die Front bringen könnte. Für die Betroffenen selbst ist der Weg in den Krieg eine Frage des Überlebens.
„Wenn sich nur ein Drittel von denen melden würde, die sich in ihren Wohnungen verstecken, dann könnte das den Unterschied machen“, sagt ein Abgeordneter des Verteidigungsausschusses.
Doch für die Männer auf den Straßen von Kiew ist der Krieg weit weg – und doch so nah, dass die Angst vor der Einberufung ihren Alltag bestimmt.