Brain Drain im Zeitraffer
Sie gehen nicht leise – sie gehen massenhaft. Laut Daten der türkischen Statistikbehörde haben im Jahr 2023 über 291.000 türkische Staatsbürger das Land verlassen, Tendenz steigend.
Die offizielle Statistik schweigt sich über Alter und Bildung aus, doch das Bild ist eindeutig: Es ist die akademisch gebildete, junge Generation, die dem Land zunehmend den Rücken kehrt.
Was sie eint: Sie glauben nicht mehr an Reformen, nicht an Karrierechancen, nicht an einen Rechtsstaat, der unabhängig entscheidet. Sie sehen keine Zukunft – weder in Forschung noch Wirtschaft, weder im Kulturbetrieb noch in der Justiz.
Von Istanbul nach Berlin – mit Masterplan
Deutschland ist das beliebteste Ziel. Seit 2018 sind laut Auswärtigem Amt rund 200.000 Türken mit Studien- oder Arbeitsvisum eingereist. Es sind nicht die klassischen Gastarbeiterfamilien, die hier ankommen – sondern junge Menschen mit Uniabschluss, Sprachkenntnissen und klarer Exit-Strategie.
Für viele beginnt der Abschied schon auf der Schulbank. An Elite-Schulen wie der Deutschen Schule Istanbul oder dem Galatasaray-Gymnasium machen heute mehr als 90 Prozent der Absolventen ihr Studium im Ausland, sagt Juraprofessor Kerem Gülay.
„Früher blieben die Besten hier. Heute gehen sie – fast alle.“
Warum die Talente gehen – und nicht zurückkommen
Der Grund ist kein Geheimnis: Die wirtschaftliche Logik spricht gegen ein Leben in der Türkei.
Wer heute Jura an einer privaten Top-Uni studiert, zahlt bis zu 100.000 Euro – und kann danach mit 1.700 bis 2.000 Euro Einstiegsgehalt rechnen.
n Istanbul, wo die Mieten mittlerweile teurer sind als in Berlin, ist das ein finanzielles Desaster. Und selbst gut ausgebildete Designerinnen mit Fremdsprachenkenntnissen, wie sie in Istanbul auf die Straße gehen, finden oft keinen Job – es sei denn, sie haben die „richtigen“ Kontakte.

Denn Karriere, so der Tenor vieler junger Türken, ist heute eine Frage der Loyalität zur Regierung – nicht der Qualifikation.
Protest, der anders klingt
Nicht alle gehen. Viele bleiben – und wehren sich. Nach der Verhaftung von Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu, Erdogans prominentestem Herausforderer, gehen Zehntausende junge Menschen auf die Straße.
Die Bilder erinnern an die Gezi-Proteste von 2013 – und sind doch anders. Diesmal wird nicht nur skandiert, sondern auch inszeniert: Mit Derwisch-Tänzen im Tränengas, Brettspielen vor Wasserwerfern und Demonstranten im Pikachu-Kostüm.
Es ist eine neue Protestkultur, kreativ, ironisch, entwaffnend. Die politische Botschaft bleibt dieselbe: Schluss mit Autokratie, Schluss mit Stillstand. Aber sie wird auf eine Weise transportiert, die nicht mit der Faust, sondern mit dem Lächeln kämpft.
Die neue Diaspora: urban, liberal, organisiert
Auch im Ausland verändert sich das Gesicht der türkischen Community. In Städten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt sind die neuen Zuwanderer sichtbar: auf Demos, in Debatten, in Initiativen.
Sie bringen andere Codes, andere Narrative – individualistisch, digital, oft säkular. Ihre Form des Protests ist weniger parteipolitisch, dafür breiter anschlussfähig.
Ein Satz auf einem Protestplakat in Berlin bringt es auf den Punkt: „Damit nicht noch eine Generation Deutsch lernen muss.“ Dahinter steckt nicht nur Ironie – sondern ein ernst gemeinter Wunsch, irgendwann wieder zurückzukehren. Irgendwann.
Zwischen Repression und Aufbruch
Während Erdogan versucht, den Staat auf Linie zu bringen – mit der Entfernung missliebiger Dekane, dem Streichen der Evolutionstheorie aus Lehrplänen, der Kriminalisierung von Opposition – wächst in der Jugend der Widerstand. Sie demonstriert nicht nur gegen die politische Führung, sondern gegen das ganze System aus Korruption, Ungleichheit und politischem Fatalismus.
Und sie tut es, obwohl sie weiß: Die Repression ist real. Nach wie vor werden Urteile des Verfassungsgerichts ignoriert. Wer laut ist, riskiert Job, Karriere, Freiheit. Trotzdem gehen sie auf die Straße – oder in den Flieger.
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