09. Januar, 2025

Wirtschaft

Wie Deutschland seine Krankmeldungen drastisch reduzieren könnte

Die Niederlande haben es geschafft, ihre krankheitsbedingten Ausfallzeiten radikal zu senken. Mit klaren Reformen, strengen Vorgaben und innovativen Ansätzen zur Wiedereingliederung bieten sie ein Modell, von dem Deutschland viel lernen könnte.

Wie Deutschland seine Krankmeldungen drastisch reduzieren könnte
Die Zahl der krankheitsbedingten Fehltage erreicht 2024 einen Höchststand. Während Unternehmen wie Mercedes und Allianz die Wettbewerbsfähigkeit bedroht sehen, fehlen klare Reformansätze.

Ein kurzer Anruf kann den Unterschied machen. Sandra Wolters, Mitarbeiterin des niederländischen Dienstleisters Robidus, spricht täglich mit kranken Arbeitnehmern.

Während sie vor ihrem Bildschirm im 13. Stock eines Büroturms in Zaandam sitzt, tippt sie präzise Antworten in ein Formular. Doch hinter den standardisierten Fragen steckt weit mehr: Wolters hakt nach, sucht nach Hinweisen auf längere Krankheitsausfälle.

Ihre Aufgabe ist klar – herausfinden, ob schnelle Maßnahmen nötig sind, um die Wiedereingliederung einzuleiten.

Dieser systematische Ansatz ist nur einer der Gründe, warum die Niederlande, einst Spitzenreiter bei krankheitsbedingten Arbeitsausfällen, heute besser dastehen als Deutschland.

Deutschlands Krankheitskosten explodieren

Hierzulande erreichten die Fehltage 2024 ein Rekordniveau. Laut der Techniker Krankenkasse war jeder Arbeitnehmer im Schnitt 17,7 Tage krankgeschrieben – ein signifikanter Anstieg im Vergleich zu 14,1 Tagen im Jahr 2019. Der wirtschaftliche Schaden?

Zahl der Erwerbstätigen im Jahr 2024 auf neuem Höchststand
Im Jahresdurchschnitt 2024 waren rund 46,1 Millionen Menschen mit Arbeitsort in Deutschland erwerbstätig. Das waren so viele Erwerbstätige wie noch nie seit der deutschen Vereinigung im Jahr 1990. Nach einer ersten Schätzung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) stieg die jahresdurchschnittliche Zahl der Erwerbstätigen im Jahr 2024 gegenüber dem Vorjahr um 72 000 Personen (+0,2 %). Mit Ausnahme des Corona-Jahres 2020 wuchs die Erwerbstätigenzahl damit seit 2006 durchgängig. Allerdings verlor der Anstieg seit Mitte des Jahres 2022 deutlich an Dynamik (siehe auch Pressemitteilung Nr. 427 zur Erwerbstätigkeit im 3. Quartal 2024 vom 15. November 2024): Nach dem Rückgang zu Beginn der Corona-Krise im Jahr 2020 um 325 000 Personen (-0,7 %) war die Erwerbstätigenzahl im Jahr 2021 zunächst leicht um 87 000 (+0,2 %) und im Jahr 2022 insgesamt kräftig um 622 000 Personen (+1,4 %) gestiegen. Im Jahr 2023 war der Zuwachs mit 336 000 Personen (+0,7 %) nur noch halb so stark wie im Vorjahr und schwächte sich im Jahr 2024 weiter deutlich ab.

Rund 38 Milliarden Euro, ein Prozent der Bruttowertschöpfung, so das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Für Unternehmen wie Mercedes oder Allianz, die mit hohen Krankenständen zu kämpfen haben, ist das ein besorgniserregendes Signal.

„Deutschland ist Weltmeister bei den Krankmeldungen“, klagte Allianz-Chef Oliver Bäte und forderte eine Rückkehr zum Karenztag. Doch die Lösung könnte weniger in Sanktionen als in Systemreformen liegen. Ein Blick über die Grenze zeigt, wie es anders geht.

Die niederländische Reformstrategie

In den 1990er-Jahren kämpften die Niederlande mit ähnlich hohen Krankenständen wie Deutschland heute. Der Wendepunkt kam durch eine Reihe gezielter Reformen:

  1. Übertragung der Lohnfortzahlung auf Arbeitgeber: Seit 1994 sind niederländische Unternehmen verpflichtet, die Löhne kranker Mitarbeiter zunächst sechs Wochen und später bis zu zwei Jahre weiterzuzahlen.
  2. Gatekeeper-Protokoll: Arbeitgeber müssen detaillierte Pläne zur Wiedereingliederung kranker Mitarbeiter vorlegen, inklusive regelmäßiger Neubewertungen des Gesundheitszustands durch betriebliche Ärzte.
  3. Strenge Anreize: Unternehmen, die ihre Krankenstände effizient managen, profitieren von geringeren Sozialabgaben. Gleichzeitig drohen Lohnkürzungen bei mangelnder Kooperation von Arbeitnehmern.

Diese Maßnahmen führten zu einer signifikanten Senkung der Fehltage und einer stärkeren Fokussierung auf Prävention und Wiedereingliederung.

Prävention und Digitalisierung als Schlüssel

Neben der Reform der Lohnfortzahlung setzen die Niederlande auch auf Prävention. Apps wie „Life Check“ bieten Arbeitnehmern Diätprogramme, Fitnesspläne und medizinische Erstdiagnosen.


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Dadurch können gesundheitliche Probleme frühzeitig erkannt und behandelt werden, bevor sie zu längeren Ausfällen führen.

Guido Louw, Geschäftsführer von Robidus, betont, wie wichtig Prävention für die Kostenkontrolle ist. „Wenn wir Arbeitnehmer gesund halten können, reduzieren wir nicht nur die Ausfallzeiten, sondern steigern auch die Produktivität.“

Das deutsche Potenzial

Könnte das niederländische Modell in Deutschland funktionieren? Experten wie der OECD-Gesundheitsökonom Christopher Prinz sind überzeugt, dass gerade Langzeiterkrankungen besser gemanagt werden müssen.

„In Deutschland gehen enorme volkswirtschaftliche Kosten auf das Konto von Langzeitkranken. Hier gibt es großen Handlungsbedarf.“

Insbesondere psychische Erkrankungen, die in den Niederlanden durch spezielle Programme adressiert werden, sind auch in Deutschland ein wachsendes Problem. Durch gezielte Wiedereingliederungspläne könnten Betroffene schrittweise wieder in den Arbeitsalltag zurückkehren, anstatt langfristig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.

Harte Maßnahmen oder sanfte Lösungen?

Ein kontroverser Aspekt der niederländischen Reformen sind die Sanktionen: Nach einem Jahr Krankmeldung drohen Gehaltskürzungen. Diese Maßnahme wird kritisch gesehen, hat aber nachweislich Wirkung. „Der sogenannte ‚Lourdes-Effekt‘ zeigt, dass viele Arbeitnehmer kurz vor der Gehaltskürzung plötzlich genesen und zur Arbeit zurückkehren“, erklärt Louw.

In Deutschland hingegen würde ein solcher Ansatz wohl auf Widerstand stoßen. Stattdessen könnten Anreize wie niedrigere Sozialabgaben für Unternehmen, die ihre Krankenstände reduzieren, eine Lösung sein.

Ein Modell für die Zukunft?

Die Niederlande haben vorgemacht, wie eine Kombination aus präzisen Vorgaben, digitaler Unterstützung und klaren Anreizen krankheitsbedingte Fehltage drastisch reduzieren kann. Für Deutschland könnte dies eine Blaupause sein – wenn Politik, Unternehmen und Arbeitnehmer bereit sind, neue Wege zu gehen.

Der wirtschaftliche Druck ist jedenfalls da: Mit steigenden Krankheitskosten und einem zunehmenden Fachkräftemangel bleibt wenig Spielraum für ineffiziente Strukturen. Es ist Zeit für mutige Reformen.