Brüssel hält still – doch in Berlin läuft die Maschine heiß
Auf den ersten Blick sieht es nach Entspannung aus: Die EU legt ihre Pläne für Gegenzölle auf Eis, nachdem Donald Trump bestimmte Strafzölle kurzfristig wieder ausgesetzt hat.
Doch während in Brüssel die Listen gestutzt werden, brodelt es in Berlin hinter den Kulissen. Dutzende Branchenvertreter versuchen, ihre Produkte von möglichen Vergeltungsmaßnahmen fernzuhalten.
Der drohende Zollstreit mit den USA hat sich in kürzester Zeit zu einem Wettbewerb der Einflussnahme entwickelt.
Wenn Mandeln zum Politikum werden
Besonders nervös: die Süßwarenindustrie. Denn was für die meisten eine bloße Backzutat ist, ist für die Branche ein systemrelevanter Rohstoff. 92 Prozent aller Mandeln, die in der EU verarbeitet werden, kommen aus Kalifornien.
Entsprechend drastisch fiel der Ton aus, als sich der Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie direkt an Wirtschaftsminister Habeck, Kanzlerberater Kukies und Agrarminister Özdemir wandte.
Die Botschaft: Ohne Mandeln – kein Marzipan. Und auch kein Müsli, Eis oder Weihnachtsgebäck. Eine Zollschranke auf US-Nüsse könnte zum Bumerang für deutsche Exporteure werden.
Unterstützt wird die Industrie vom Waren-Verein der Hamburger Börse, der die Mandelfrage gleich an die Grundfesten der Versorgungssicherheit koppelt: Mandeln seien in einer Vielzahl deutscher Lebensmittel enthalten, eine Zollerhebung gefährde die Stabilität ganzer Produktionsketten.
Whiskey raus, Export gerettet
Nicht nur die Süßwarenbranche schlägt Alarm. Auch beim Bier hört der Lobbyismus nicht auf. Der Deutsche Brauer-Bund und der Verband der Ausfuhrbrauereien meldeten sich mit deutlichen Worten beim Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium: Zusatzabgaben auf US-Bier seien wirtschaftlich unsinnig – zumal zu befürchten sei, dass die US-Seite im Gegenzug europäischen Wein, Sekt und Bier mit 200-Prozent-Zöllen belegt.

Diese Warnung verfing. Alkoholische Getränke verschwanden von der Liste der geplanten EU-Gegenzölle. Auch Frankreich und Italien hatten hinter den Kulissen massiv Druck gemacht.
Die USA sind einer der wichtigsten Absatzmärkte für europäische Weinerzeugnisse – keine Regierung will riskieren, dass Champagner und Chianti künftig im US-Regal zur Luxusware werden.
OP-Tische auf der Kippe
Während sich Brauereien und Kellereien noch über ihr Lobbysieg freuen können, ist die Medizintechnik-Branche in heller Aufregung. Ein Papier des Bundesverbandes Medizintechnologie warnt vor Gegenzöllen auf OP-Tische, Krankenhausbetten und sogar Windelmaterial.
Flockenzellstoff, aus dem viele Inkontinenzartikel bestehen, wird zu 80 Prozent aus den USA importiert. Auch Atemschutzmasken und Kontaktlinsen könnten betroffen sein.
Die Kritik ist klar: Wer hier zollt, gefährdet die Versorgungssicherheit – und setzt Deutschlands Gesundheitswesen einem unnötigen Risiko aus.
Die Autoindustrie – Fakten, die keiner hören will
Die deutschen Autobauer verließen sich wie so oft auf Fakten. Der Verband der Automobilindustrie reichte ein Dossier beim Kanzleramt und dem Wirtschaftsministerium ein – mit dem Ziel, die enge wirtschaftliche Verflechtung zwischen der deutschen Autoindustrie und dem US-Markt zu betonen. Arbeitsplätze, Werke, Investitionen: eine harmonische Erfolgsgeschichte.
Nur hat das niemanden in Washington beeindruckt. 25 Prozent Zoll auf Autos, die nicht in den USA produziert wurden – das ist Trumps neue Realität. Die Faktenlage mag sprechen, doch die Zollliste bleibt. Für die Branche ein herber Rückschlag.
Die neue Disziplin: vorsorgliche Einflussnahme
Was sich derzeit abspielt, ist mehr als nur Krisenkommunikation. Es ist eine neue Phase politischer Einflussnahme – präventiv, leise, aber hochprofessionell. Ein Blick ins Lobbyregister zeigt, wie viele Verbände binnen weniger Tage ihre Argumente in Richtung Berlin und Brüssel schicken. Man will nicht protestieren, wenn der Schaden schon da ist – man will verhindern, dass er überhaupt entsteht.
Dabei tritt auch das Lobbyregister selbst in den Fokus. Was einst als Transparenzinstrument gedacht war, entwickelt sich zunehmend zu einer Art Landkarte für wirtschaftliche Krisenprävention. Wer meldet sich wann zu welchem Thema? Wer schreibt nicht nur Briefe, sondern trifft sich, spricht vor, bringt Formulierungen ins Spiel?
Und was, wenn das alles nicht reicht?
So professionell, organisiert und eindringlich viele dieser Branchen derzeit auftreten – ob das am Ende reicht, ist ungewiss. Trump bleibt unberechenbar. Und die EU kann ihre Zurückhaltung nur halten, wenn der Druck aus Washington nicht weiter steigt. Die nächsten 90 Tage sind eine Art Waffenstillstand – und gleichzeitig das Zeitfenster, in dem jeder versucht, sich einen Platz außerhalb der Schusslinie zu sichern.
Für manche wird es am Ende nur um Umsatz gehen. Für andere – wie die Medizintechnik – um Versorgung. Doch für alle gilt: Wer jetzt nicht spricht, wird später zahlen. Und sei es mit einer Schachtel Marzipan, die plötzlich doppelt so viel kostet.
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