Einstieg ohne Rückfahrschein
Rainer Jung kennt beide Welten: Bundeswehr und Automobilbranche. Und wie viele seiner Kollegen sucht er händeringend ein neues Geschäftsmodell. Denn das, was einmal ein Job fürs Leben war – Hightech im Dienst deutscher Premiumautos – bringt inzwischen kaum noch Planbarkeit, geschweige denn Wachstum.
Die Automobilindustrie steht unter Dauerstress: Absatzschwächen in China, Überkapazitäten, Preisdruck durch Elektro-Disruption und massive Werksschließungen setzen der Zulieferlandschaft zu.
Und während Bosch, ZF und Co. Aufträge streichen, melden Unternehmen wie Rheinmetall, KNDS und Diehl satte Umsatzsprünge. Der Grund: Europas neue Sicherheitspolitik. Die Rüstungsindustrie sucht Kapazitäten, Know-how – und Ingenieure. Für Autozulieferer eine Chance. Vielleicht sogar die letzte.
Ein boomender Markt, aber kein Selbstläufer
Allein in Deutschland sollen die Verteidigungsausgaben bis 2027 auf 150 Milliarden Euro jährlich steigen. Das zieht. Militärfahrzeuge, Steuerungselektronik, Getriebe, robuste Karosseriekomponenten – vieles davon kennen Autozulieferer. Und viele versuchen derzeit, sich anzudocken.
Doch die Realität ist komplizierter: Wer in der Wehrtechnik mitspielen will, muss liefern können. Und zwar nicht nur Qualität, sondern auch Vertrauen, Zertifikate, Sicherheitsfreigaben.
EN 9100 ist das neue TÜV-Siegel für Unternehmen mit Rüstungsambitionen – und dessen Erlangung kann dauern. Unternehmer Thomas Hirsch weiß das. Er hat den Wandel geschafft, seine Firma produziert heute hochpräzise Bauteile für militärische Luftfahrt. Der Preis: zwei Jahre Umstellung und Investitionen in Prozesse, Qualität und Personal.
Stückzahlen runter, Anforderungen rauf
Was viele unterschätzen: In der Autoindustrie geht es um Millionen – an Teilen, an Stückzahlen, an automatisierten Abläufen. Die Rüstungswelt funktioniert anders. Zehn Teile können hier eine Serie sein. Und jedes Produkt braucht Feinjustierung. Wer mit fünfstelliger Wiederholrate glänzt, fällt hier womöglich durch.

Auch die Finanzierung unterscheidet sich fundamental. Die Bundeswehr zahlt häufig erst nach Auslieferung – nicht selten Monate, wenn nicht Jahre später. Für Mittelständler bedeutet das: Alles vorfinanzieren, ohne Gewissheit. Kapitalstarke Partner oder ein langer Atem sind Pflicht.
Die neue Hoffnung heißt: Rüstung
Trotz aller Hürden zieht es immer mehr Unternehmen in die Branche. Beratungen wie Wimcom gewinnen wöchentlich neue Kunden, die vom Verbrenner zum Verteidiger werden wollen. Bosch, Continental, Mahle – intern wird längst sondiert, welche Kompetenzen sich umwidmen lassen.
Selbst OEMs wie Daimler Truck oder VW denken über Militärsparten nach. In Osnabrück oder Dresden stehen Werke zur Disposition – für Rheinmetall durchaus interessante Optionen.
Die Vision: ungenutzte Autofabriken, umgewidmet für Panzer, gepanzerte Lkw oder Gefechtsstände. VW-Chef Oliver Blume spricht von einem „Lösungsraum“, in dem Militärfahrzeuge ausdrücklich mitgedacht werden. Rheinmetall-CEO Papperger hat bereits Interesse angemeldet.
Rüstung als Standbein – nicht als Rettung
Doch so verlockend die Milliarden auch klingen: Die Rüstungsindustrie kann die Automobilindustrie nicht ersetzen. Dafür ist sie zu klein, zu spezialisiert – und zu langsam. Bei ZF etwa macht die Verteidigungstechnik trotz aller Aktivitäten weniger als ein halbes Prozent des Konzernumsatzes aus. Selbst bei ambitionierten Ausbauszenarien bleiben Rüstungsaufträge Nischen – keine tragenden Säulen.
Berater wie Fabian Brandt von Oliver Wyman warnen vor übertriebenen Hoffnungen: Der Einstieg ist möglich, aber er dauert – und er lohnt sich nur für Unternehmen, die wirklich passen. Und die ihre eigene Rolle neu denken: als Spezialisten für Einzelanfertigung, nicht als Massenproduzenten.
Kulturbruch inklusive
Für viele ist der Wechsel auch eine mentale Herausforderung. Der Sprung von der Lean-getakteten Mercedes-Fabrik zur schwerfälligen Montagehalle bei KNDS ist kein Fortschritt – sondern ein Zeitsprung. Vieles wirkt handwerklich, improvisiert, unautomatisiert. Und dabei hochkomplex. Wer bisher auf Effizienz und Tempo setzte, muss lernen, mit Maßarbeit und langen Projektlaufzeiten umzugehen.
Auch das Personal muss mitziehen. Fachkräfte aus der Autoindustrie bewerben sich inzwischen aktiv bei Rüstungsfirmen wie Hensoldt. Doch Umstiege dauern – laut Experten oft zwei bis drei Jahre, bis Ingenieure die nötige Denkweise und Produktlogik verinnerlicht haben. Die Motivation? „Hauptsache zukunftsträchtig“, wie ein Ex-Autoingenieur trocken sagt.
Kein Königsweg – aber ein gangbarer Pfad
Die große Umrüstung der deutschen Industrie ist Realität. Und sie wird auch über die Zulieferlandschaft entscheiden. Unternehmen, die heute handeln, verschaffen sich einen Vorsprung – nicht unbedingt auf dem Konto, aber bei der Aufstellung für eine neue industrielle Logik. Denn klar ist: Wer weiter auf Massenfertigung, China-Absatz und E-Auto-Boom hofft, könnte sich verrechnen.
Die Transformation wird nicht nur elektrisch. Sie wird auch geopolitisch. Rüstung ist kein glamouröser, aber ein robuster Sektor. Und er könnte jenen Firmen Stabilität bringen, denen die automobile Welt gerade entgleitet.
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