Wenn Altersvorsorge zur Wette wird
Es war ein Satz mit Sprengkraft:
„In der über 50-jährigen Geschichte beendete das Versorgungswerk 2023 erst zum zweiten Mal ein Jahr mit einem negativen Ergebnis.“
Mit diesen Worten räumte Titus Freiherr Schenck zu Schweinsberg, Vorstandschef des hessischen Ärzteversorgungswerks, im vergangenen Herbst ein, was heute in vollem Ausmaß sichtbar wird: eine verheerende Fehlspekulation mit hochriskanten Immobilienfinanzierungen, deren Auswirkungen fast 37.000 Mitglieder betreffen.
Nun zeigen Recherchen: Die Verluste summieren sich auf bis zu 300 Millionen Euro – und das dicke Ende dürfte noch nicht erreicht sein.
Das Rezept: viel Risiko, wenig Transparenz
Der größte Teil der Verluste stammt aus einer Anleihe mit sogenannten Mezzanine-Finanzierungen – einem hybriden Finanzinstrument zwischen Eigen- und Fremdkapital. Solche Produkte versprechen hohe Zinsen, bringen aber hohe Risiken mit sich, weil sie in der Regel nachrangig besichert sind – also im Zweifel leer ausgehen, wenn der Immobilienentwickler in die Insolvenz rutscht. Und genau das ist passiert.
Die hessischen Ärzte haben in großem Stil in diese hochkomplexe Finanzstruktur investiert – über eine eigens dafür aufgelegte Zweckgesellschaft namens Collect, mit Sitz in Luxemburg. Diese hatte Immobilienprojekte wie das alte Polizeipräsidium in Frankfurt, The Oval in Düsseldorf oder das Inquartier in Ingolstadt finanziert – alle von der mittlerweile insolventen Gerch Group.
Insolvenz reihte sich an Insolvenz
Collect investierte auch in weitere Projektentwickler, die in den letzten zwei Jahren kollabierten: Development Partner, Eyemaxx, Profund, HGHI. Teils in Form von Direktkrediten, teils über Fonds.
Die Folge: Milliardenprojekte liegen brach, Projekte wurden gestoppt, Objekte sind nicht vermietet. Im Geschäftsbericht 2023 ist von außerplanmäßigen Abschreibungen in Höhe von 198,8 Millionen Euro auf diese Investments die Rede.
Die Zweckgesellschaft Collect selbst hat nach dem letzten bekannten Geschäftsabschluss Anfang 2022 ein Volumen von 407 Millionen Euro verwaltet. Heute beträgt der Wert laut Bericht des Versorgungswerks noch 193,5 Millionen Euro. Fast die Hälfte ist vernichtet – zumindest auf dem Papier. Ob und wie viel Geld jemals wieder fließt, ist offen.
Collineo – Verwalter mit Gewinnerträgen trotz Verlustpapieren
Die Spur führt zum Dortmunder Vermögensverwalter Collineo, gegründet von Dirk Bergander. Collineo soll Collect im Auftrag der hessischen Ärzte aufgelegt und betreut haben. Auf Fragen nach der genauen Struktur reagierte das Unternehmen nicht. Im Hintergrund aber lassen sich die Verbindungen kaum leugnen: Geschäftsführer von Collect ist Dirk Bergander, die Bilanzzahlen passen haargenau zu den Anleihewerten des Versorgungswerks.
Und während die Ärzte Millionen verlieren, verdient Collineo weiter: Für die Verwaltung der Collect-Struktur zahlte das Versorgungswerk laut Bericht 1,7 Millionen Euro im Jahr 2022 – das Doppelte des Vorjahres.
Ein stilles Systemversagen?
Die Ärztekammer spricht von einem „Einzelfall“ und betont, dass die übrigen Anlagen gut gelaufen seien. Doch der Schaden ist angerichtet – nicht nur finanziell, sondern auch institutionell.
Denn das Desaster offenbart ein strukturelles Problem vieler Versorgungswerke: Intransparentes Management, schwache Aufsicht, hohe Inhouse-Quoten – und eine erstaunliche Risikobereitschaft beim Thema Immobilien.
Das hessische Versorgungswerk ist kein kleiner Player. Mit einem Vermögen von rund 10 Milliarden Euro zählt es zu den größten seiner Art. Doch selbst hier war das Risikomanagement offenbar nicht in der Lage, die Schwächen der Mezzanine-Produkte rechtzeitig zu erkennen – oder man wollte die hohen Zinsen einfach mitnehmen, solange es ging.
Die Mitglieder bleiben im Dunkeln
Viele der rund 37.000 Versicherten dürften von all dem nichts wissen. Im offiziellen Jahresbericht stehen zwar die Zahlen – aber keine konkreten Projektnamen, keine klare Aufschlüsselung, kein Hinweis auf die beteiligten Unternehmen. Auch auf Anfrage bleibt das Versorgungswerk ausweichend: Man wolle keine Geschäftsgeheimnisse preisgeben.
Dabei ginge es gerade hier um Transparenz. Denn letztlich steht die Altersvorsorge von Ärzten auf dem Spiel, die über Jahrzehnte eingezahlt haben – im Vertrauen auf solide Anlagepolitik.
Politik und Aufsicht schauen weg
Bemerkenswert ist auch, wie wenig politische Aufmerksamkeit die Affäre bislang bekommt. Anders als bei Banken oder Versicherungen unterliegen Versorgungswerke keiner strengen Regulierung. Die Landesärztekammer hat über Jahre offenbar kaum hinterfragt, wie hoch das Exposure bei Collect wirklich war. Von einer Aufarbeitung auf Landesebene fehlt bislang jede Spur.
Ein teuer bezahltes Umdenken
Immerhin: Das Versorgungswerk hat inzwischen reagiert. Für 2024 wurden keine neuen Verträge über die eigene Immobiliengesellschaft abgeschlossen. Die Anlagepolitik wurde überarbeitet.
Man habe aus der Krise gelernt, heißt es. Und: Diese Art der Investments werde künftig nicht mehr getätigt. Es ist ein später, teurer Lernprozess.
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