19. September, 2024

Wirtschaft

Transatlantische Divergenz: Warum Europa Amerika nicht einholen kann

Transatlantische Divergenz: Warum Europa Amerika nicht einholen kann

Die USA hatten zu Beginn des Jahrtausends keinen Plan, Europa wirtschaftlich zu überholen. Während die EU sich mit der Lissabon-Agenda 2000 verpflichtete, die „dynamischste wissensbasierte Wirtschaft der Welt“ zu schaffen, verfolgten die USA keine ähnliche Strategie. Dennoch ist der transatlantische Unterschied in den materiellen Ergebnissen seit zwei Jahrzehnten offenkundig. Europas Ausgangslage war dabei ohnehin schlechter.

Washington hat in dieser Zeit nur kürzlich, durch Joe Bidens Protektionismus, etwas Ähnliches wie eine wirtschaftliche Vision entwickelt. Draghi wird teils kritisiert, weil er diese übernehmen will. Doch selbst ein freimütigerer Ansatz nach amerikanischem Vorbild wäre schwer umsetzbar. Kulturelle Unterschiede machen es zweifelhaft, ob das europäische Handicap aufgehoben werden kann. Der Kontinent bleibt letztlich eine andere Welt.

Falls Europas Problem die Unfähigkeit ist, Bidens Wirtschaftspolitik nachzuahmen, wird dieses Problem bestehen bleiben. 67 Jahre nach dem Römischen Vertrag beläuft sich das EU-Budget auf gerade einmal 1 Prozent des Gesamtoutputs der Union. Eine substanzielle Erhöhung erscheint unwahrscheinlich, da anti-europäische Parteien vielerorts erstarken. Weder nationale Veto-Beschränkungen, wie von Draghi gefordert, noch Ähnlichkeiten in der Entscheidungsfindung mit den USA oder China sind absehbar. Dies ist keineswegs ein Führungsversagen; Europa ist schlicht kein Nationalstaat.

Falls das Problem Europas eine belastende Verwaltung ist, gibt es wenig technokratische Lösungen. Europäer haben höhere Erwartungen an den Sozialstaat als Amerikaner. Diese kulturelle Besonderheit -- ob durch katholische Soziallehre, Feudalzeiten oder Dekadenz entstanden -- ist tief verankert. Führer, die sich dagegen stellen, riskieren zivile Unruhen (Beispiel: Thatcher, Macron) oder Wahlniederlagen (Schröder). Brexit-Befürworter, die glauben, Großbritannien sei "anglo-sächsisch" in diesen Dingen, sollten US-Niveaus von gesetzlichem Urlaub vorschlagen und die Reaktion abwarten.

Ein weiterer Grund für Europas relative Lethargie ist der unvollständige Binnenmarkt. Hier besteht Handlungsbedarf und Potenzial. Draghi zeigt sich stark in der Integration der Kapitalmärkte. Dennoch bleibt die Herausforderung bestehen, dass Amerika eine einheitliche Sprache spricht, was in Europa mit seinen 27 Mitgliedstaaten nicht der Fall ist. Die kulturellen Barrieren zur Skalierung eines Geschäfts sind klar größer als in den USA, die länger vereint sind als Deutschland oder Italien, geschweige denn die EU.

Neben diesen zeitlosen Unterschieden gibt es auch neue. In den 1990er Jahren war das Durchschnittsalter in den USA nicht viel niedriger als in Europa. Seither hat sich die Schere weiter geöffnet. Die USA sind zudem der größte Produzent von Öl und Erdgas weltweit, was Europa, selbst vor dem Schiefergas-Boom in den USA, nicht in gleichem Maße vergönnt war.

Berücksichtigt man all diese Vorteile -- mineralisch, demografisch, sprachlich -- ist es erstaunlich, dass der wirtschaftliche Vorsprung der USA nicht noch größer ist. Dies schließt die Unternehmerbegeisterung ein, die in den USA weitaus stärker ausgeprägt scheint. Ein amerikanischer Investor in Großbritannien war überrascht, dass es wenig Ansehen genießt, der Abschlussklasse zu verkünden, man wolle ein Unternehmen gründen. Wie technisch lösbar ist dieses kulturelle Problem?

Vielleicht ist nicht Europas Leistung seit der Jahrtausendwende die Ausnahme, sondern die Jahrzehnte davor. Was Draghi als europäisches "Sozialmodell" bezeichnet, war damals von intensiverem Wettbewerb abgeschirmt. China tastete sich erst in die Weltwirtschaft, Indien liberalisierte 1991. Das schwerer zu unterbietende amerikanische Modell könnte für das 21. Jahrhundert besser geeignet sein als für das 20.

Diese Betrachtung ist nicht resigniert. Europa bleibt lebenswert. Es ist bezeichnend, dass amerikanische Eliten häufig den Kontinent besuchen, was umgekehrt weniger der Fall ist. Die europäische Reformverweigerung ist untrennbar mit der Lebensqualität hier verbunden. Doch es bleibt dabei, dass Draghis Bericht vermutlich nicht der letzte war. Auch in Zukunft werden solche Berichte gelobt, aber ihre Umsetzungschancen bezweifelt. Diese höfliche Skepsis spiegelt wider: Ein politisch und kulturell unwahrscheinlicher Plan ist kein guter Plan.