Feuer im Fass, Eis im Herzen
Seit 127 Tagen stehen sie da, vor Tor I des Thyssenkrupp-Werks in Duisburg. Die Arbeiter, die trotz klirrender Kälte Mahnwache halten, sprechen von Angst, Verzweiflung und Wut.
Angst vor dem Verlust von 11.000 Arbeitsplätzen. Verzweiflung, weil keine Perspektive in Sicht ist. Wut auf ein Management, das nach ihrem Empfinden die Kontrolle verloren hat.
„Es fühlt sich an, als würden wir langsam ersticken“, sagt Aydin Özer, 33 Jahre alt, Industriemechaniker. Jeden Tag fährt er aus Wuppertal hierher, doch die Fahrt ist für ihn längst keine Routine mehr. „Es ist, als würden wir jeden Tag nur warten. Warten auf die nächste schlechte Nachricht.“
Eine Stadt in der Abwärtsspirale
Thyssenkrupp und Duisburg – das war lange Zeit eine Geschichte von Industrie, Stolz und Identität. Das Werk ist der größte Stahlstandort Europas. Seine zehn Quadratkilometer Fläche sind ein Mikrokosmos aus Hochöfen, Schienen und Hallen. Hier arbeiten Generationen.
Aydin Özer gehört dazu, ebenso sein Kollege Taycan Aslantin, der mit 28 Jahren gerade dabei ist, Vater zu werden. „Statt mich auf meine Tochter zu freuen, mache ich mir Sorgen“, sagt er leise. „Wir haben keine Kontrolle mehr über unsere Zukunft.“
Doch es geht nicht nur um die 11.000 Arbeitsplätze, die in Duisburg und anderswo auf der Kippe stehen. „An jedem Arbeitsplatz hängen vier weitere“, erklärt Ali Güzel, der Betriebsratschef vor Ort. Zulieferer, Dienstleister, Handwerksbetriebe – eine ganze Region droht, wirtschaftlich auszubluten.
Ein Management ohne Plan?
Die Probleme von Thyssenkrupp sind nicht neu. Jahrzehnte lang profitierte der Stahlriese von einer sicheren Nachfrage und niedrigen Produktionskosten. Doch internationale Konkurrenz, steigende Energiepreise und die Umstellung auf CO₂-neutrale Produktion setzen dem Unternehmen massiv zu.
Bereits im Sommer spitzten sich die internen Konflikte zu: Mehrere Führungskräfte, darunter Aufsichtsratschef Sigmar Gabriel, räumten ihre Posten.
„Wir sehen, dass alles um uns herum wackelt, aber niemand zeigt uns, wie es weitergehen soll“, kritisiert Güzel. Die angekündigte Direktreduktionsanlage, die künftig emissionsarmen Stahl produzieren soll, ist ein wichtiger Schritt – aber sie kostet Zeit und Arbeitsplätze. „Der Vorstand spricht von neuen Perspektiven, aber konkret sehen wir nur den Rückbau.“
Kein Platz für Nostalgie
Es wäre einfach, sich an vergangene Zeiten zu klammern. Duisburg hat das schon einmal getan. 1987 blockierten Stahlarbeiter Brücken im ganzen Ruhrgebiet, um gegen die Schließung des Werks in Rheinhausen zu kämpfen.
Doch diese Zeiten sind vorbei. „Wir können uns nicht erlauben, gegen die Gesetze zu protestieren“, sagt Özer. „Wir müssen mit Argumenten kämpfen, nicht mit Straßenblockaden.“
Betriebsrat Güzel glaubt dennoch an die Macht der Proteste. „Damals ging es um 5.000 Arbeitsplätze, heute sprechen wir über mehr als das Doppelte.“ Die Frage, ob Deutschland eine Industrienation bleiben will, sei nicht mehr abstrakt, sondern Realität.
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Das Erbe von Stahl und Asche
Für viele in Duisburg ist Stahl mehr als ein Wirtschaftszweig – er ist Identität. „Der Abstich, der den Himmel rot färbt, ist wie ein Herzschlag dieser Stadt“, sagt Alexander Klomparend, der aus Niedersachsen nach Duisburg zog und vom Stolz der Arbeiter beeindruckt ist. Doch dieser Herzschlag wird leiser.
Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link bringt es auf den Punkt: „Viele Menschen haben Existenzängste, und die Verbindung zum Stahl ist hier generationsübergreifend. Es geht nicht nur um Wirtschaft, sondern auch um Emotionen.“