Das rechtsnationale Rassemblement National (RN) könnte schon bald zur stärksten politischen Kraft in der französischen Nationalversammlung aufsteigen. Laut Hochrechnungen sicherte sich die Partei in der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahl 33 bis 34,2 Prozent der Stimmen. Präsident Emmanuel Macrons Mitte-Lager landete mit 20,7 bis 22 Prozent abgeschlagen auf dem dritten Platz hinter dem Linksbündnis Nouveau Front Populaire, das auf 28,1 bis 29,1 Prozent kam.
Das Ergebnis stellt für Macron eine herbe Enttäuschung dar. Er hatte gehofft, durch die vorgezogenen Neuwahlen die Mehrheit seines Mitte-Lagers im Parlament auszubauen. Dieser Plan scheint nun in weite Ferne gerückt zu sein. Marine Le Pens RN könnte mit 230 bis 280 Sitzen die stärkste Fraktion im Unterhaus werden, allerdings ohne die absolute Mehrheit von 289 Sitzen zu erreichen. Le Pen appellierte an die Wähler, in der entscheidenden zweiten Runde am 7. Juli für eine absolute Mehrheit zu sorgen.
Die Linken könnten zwischen 125 und 200 Sitzen erzielen, während Macrons Liberale auf nur noch 60 bis 100 Sitze schrumpfen könnten. Konkrete Zahlen zur Sitzverteilung bleiben jedoch unsicher, da vor der zweiten Wahlrunde noch lokale Bündnisse geschmiedet werden können. Sowohl die Linken als auch das Macron-Lager kündigten an, in bestimmten Wahlkreisen zugunsten eines stärkeren Kandidaten zurückzutreten, um das RN zu schwächen.
Das Scheitern, eine absolute Mehrheit zu erlangen, könnte Frankreich in eine Phase politischer Unsicherheit stürzen. Ohne klare Mehrheitsverhältnisse wären zähe Koalitionsverhandlungen unausweichlich, ein Szenario, das bislang nicht im politischen Stil Frankreichs verankert ist. Eine mögliche Übergangsregierung oder eine Expertenregierung wären denkbare Folgen.
Sollte Macron gezwungen sein, einen Premierminister aus den Reihen des RN zu ernennen, wird dies zu einem Machtverlust führen. Ein Premier aus dem RN könnte Macrons politische Initiativen erheblich beeinträchtigen, insbesondere in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Deutschland und Europa. Die Euroskeptiker des RN könnten Projekte in Brüssel blockieren und sich gegen die EU-Erweiterung sowie die NATO stellen.
Marine Le Pen versucht seit Jahren, das RN von seiner rechtsextremen Vergangenheit zu lösen und hat die Partei bis in die gesellschaftliche Mitte hinein wählbar gemacht. Mit Jordan Bardella steht ein junger, unverbrauchter Politiker an der Spitze, der das neue gemäßigtere Image der Partei verstärken könnte.
Das linke Lager profitierte bei den Wahlen von einem neu formierten Bündnis, das trotz interner Unstimmigkeiten eine breite Unterstützung erhielt. Dieses Bündnis könnte maßgeblich zum starken Abschneiden der Linken beigetragen haben. Die hohe Wahlbeteiligung von 65,8 bis 67 Prozent wurde von Macron als Zeichen für den Willen zur Klärung der politischen Situation gewertet.