Während die Europäische Union in Krisenzeiten als Verteidigerin von Bürgerrechten und Demokratie auftritt, zeichnet sich hinter den Kulissen eine andere Realität ab: Eine Abhängigkeit von autoritären und sogenannten „Halb-Demokratien“ hat sich gefestigt und verstärkt.
Diese Tendenz legt eine aktuelle Untersuchung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) offen. Darin wird klar, wie tief die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der EU und Ländern reichen, deren Menschenrechtslage problematisch ist.
Das birgt Risiken für die politische und wirtschaftliche Stabilität in Europa – und zeigt ein verwundbares Europa, das durch wirtschaftliche Zwänge an flexibleren diplomatischen Spielräumen verliert.
Wachsender Einfluss autoritärer Staaten auf Europas Wirtschaft
Die Ergebnisse des ESM sind beunruhigend: Ein Drittel der europäischen Schulden in Drittstaaten liegt bei Regierungen, die von der EU offiziell als „nicht verbündet“ gelten. Dieser wirtschaftliche Hebel könnte für die EU zu einer wachsenden Bürde werden, sollte der geopolitische Druck auf die Mitgliedstaaten weiter steigen.
Die wirtschaftliche Verflechtung der EU-Staaten mit dem „China-Block“ – einem Zusammenschluss aus politisch und wirtschaftlich autoritären Staaten – ist im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich gewachsen und zeigt sich in einer Fülle von Handels-, Investitions- und Kreditgeschäften.
China, die größte autoritäre Wirtschaftsmacht, nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Aber auch andere Staaten Asiens und Afrikas wie Indonesien, Vietnam und der Nahe Osten rücken in den Fokus.
Die Einbindung in deren Lieferketten stellt Europa vor ein Dilemma, denn ohne den Zugang zu den Ressourcen dieser Länder könnte die EU ihre strategischen Ziele in der Digitalisierung und Energiewende schwerlich erreichen. Eine fundamentale Herausforderung für die EU, die auf Werte setzt, aber zunehmend in einem globalen Netzwerk wirtschaftlicher Abhängigkeiten operiert.
Politische Spannungen: Der Preis der wirtschaftlichen Notwendigkeiten
Die Kluft zwischen Europas erklärtem Anspruch und seiner wirtschaftlichen Realität zeigt sich an der Türkei, die trotz ihrer innenpolitischen Spannungen nach wie vor als Beitrittskandidat zur EU geführt wird und wirtschaftlich eine wichtige Rolle spielt.
Brüssel verurteilte erst kürzlich die Teilnahme des türkischen Präsidenten am Gipfeltreffen in Kasan, bei dem sich Putin mit Xi Jinping und anderen autoritären Regierungschefs der Welt präsentierte.
Ähnliche Spannungen bestehen zu Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, deren Verstöße gegen Menschenrechte regelmäßig auf den Prüfstand kommen – während die Wirtschaftsbeziehungen zur EU blühen.
Der ESM-Bericht betont, dass die Zusammenarbeit mit sogenannten „Halb-Demokratien“ wie Indonesien oder Ägypten wirtschaftlich unumgänglich erscheint, politisch jedoch zunehmend für Dilemmata sorgt.
Europa riskiert, diese Länder zur Unterstützung zu bewegen, muss dabei aber in Kauf nehmen, dass nationale Interessen immer wieder über demokratische Werte gestellt werden.
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Denn während China, Russland und andere auf eine multipolare Weltwirtschaft hinarbeiten, in der der Einfluss des Westens geschwächt wird, zeigt sich die EU in einer Zwangslage: wirtschaftliche Verflechtung oder politischer Werteverzicht?
Neue Handelshemmnisse gefährden Europa
Der Bericht zeichnet ein düsteres Bild für die weitere wirtschaftliche Globalisierung. Seit 2017 haben Zölle, Quoten und andere Handelsbeschränkungen weltweit massiv zugenommen.
Laut dem ESM verzeichnete die Welt 2023 rund 3.000 solcher „schädlichen Eingriffe“ in den globalen Handel. Die Handelskonflikte zwischen der EU und China spitzen sich zu: Europäische Zölle auf chinesische Elektroautos und Chinas Gegenmaßnahmen auf europäische Luxusgüter wie Cognac sind nur die Spitze des Eisbergs.
Mit jeder neuen Maßnahme rücken Europa und der globale Süden weiter auseinander – die Blockbildung im Welthandel ist schon lange Realität.
Diese wirtschaftlichen Gräben bedrohen nicht nur die Handelsströme, sondern auch die politische Stabilität in Europa. Die Mitgliedstaaten erkennen zunehmend, dass eine übermäßige wirtschaftliche Abhängigkeit von wenigen Ländern in geopolitischen Krisenzeiten zu ernsten Problemen führen kann.
Bundeskanzler Olaf Scholz warnte bereits vor den Folgen eines Handelskriegs mit China – doch die wirtschaftliche Realität lässt der EU kaum Handlungsspielraum.
Strategische Autonomie – ein ferner Traum?
In der Praxis erweist sich die strategische Autonomie, die die EU anstrebt, als komplexes Unterfangen. Solange die Nachfrage nach kritischen Rohstoffen und Exportmärkten besteht, ist die EU gefangen in einem Netz aus Abhängigkeiten, das weder kurzfristig durch Diversifikation noch durch nationale Förderung gelöst werden kann.
Die Lektion, die aus der aktuellen Verflechtung zu ziehen ist, lautet: Wer überlebenswichtige Ressourcen braucht, muss sich auf internationale Zusammenarbeit verlassen – ob demokratisch oder nicht.