Die KI war ein Mensch
Der Betrug war simpel – und gerade deshalb so perfide. Während Tech-Investoren von einem automatisierten Einkaufserlebnis träumten, ließ Albert Saniger, Gründer des Start-ups Nate, reale Menschen in philippinischen Callcentern Onlineshops bedienen.
Und zwar händisch. Klick für Klick, wie früher. Nur dass darüber eine glänzende Fassade lag – eine KI, die nie existierte.
Mehr als 50 Millionen Dollar sammelte Saniger ab 2018 ein. Prominente Wagniskapitalgeber wie Coatue oder Forerunner Ventures glaubten an seine Vision vom „One-Click-KI-Shopping“.
Das Problem: Nate verfügte über keinen einzigen vollautomatisierten Prozess. Gar keinen. Null Prozent.
Täuschung mit System
Die US-Staatsanwaltschaft erhebt nun Anklage. Sie wirft dem 35-jährigen Spanier vor, Investoren vorsätzlich getäuscht, Zahlen manipuliert und seine eigene Belegschaft zum Schweigen gebracht zu haben.
Das interne Automatisierungs-Dashboard, das den tatsächlichen Fortschritt zeigte, soll er kurzerhand zum „Firmengeheimnis“ erklärt und den Zugriff blockiert haben.
Als ein Taifun im Herbst 2021 das Callcenter auf den Philippinen lahmlegte, organisierte Saniger laut Anklage ein Ersatz-Team in Rumänien. Auch dort: keine KI, sondern menschliche Arbeitskräfte – bei Niedriglohn. Die digitale Fassade musste gewahrt bleiben.

Die Illusion der Innovation
In Zeiten des KI-Hypes war das Versprechen von Nate zu verführerisch, um zu hinterfragen. Wer braucht noch Eingabemasken, wenn eine künstliche Intelligenz Adressen und Zahlungsdaten automatisch einfügt? Der ideale Begleiter für mobile Onlineshopper, so das Narrativ.
Doch wie die Tech-Plattform The Information schon 2022 enthüllte, basierte das ganze System auf analoger Menschenarbeit. Die „KI“ war ein Mythos – inszeniert mit der Präzision eines Silicon-Valley-Pitches, aber ohne technischen Unterbau.
Investoren getäuscht, System optimiert
Besonders schwer wiegt der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, Saniger habe gezielt einzelne Investoren bevorzugt, damit sie beim Test der App ein besonders reibungsloses Erlebnis hätten. Dafür habe Nate den sogenannten „VIP-Modus“ eingerichtet – hinter dem nichts anderes als bevorzugte Bearbeitung durch menschliche Operatoren stand.
Mitarbeitende, die auf Missstände hinwiesen, seien intern zum Schweigen verdonnert worden. Hinweise auf Callcenter-Verträge mussten aus sozialen Netzwerken verschwinden. Laut FBI sei ein ganzes System „aus Rauch und Spiegeln“ geschaffen worden – und das mit voller Absicht.
Von der Fintech-Hoffnung zur Anklagebank
Der Fall reiht sich ein in eine Serie prominenter Fintech-Abstürze. Nach Elizabeth Holmes und Charlie Javice steht nun auch Saniger im Zentrum einer Debatte über die dunklen Seiten der Gründerkultur. Der Vorwurf: weniger Innovation, mehr Inszenierung – vor allem dann, wenn es um Wagniskapital und schnelle Skalierung geht.
Dabei war Nate nicht das einzige Start-up, das auf Buzzwords wie „KI“ setzte, um Investoren zu locken. Doch selten war die Lücke zwischen Story und Substanz so groß – und so kalkuliert.
Lektion für das Silikonzeitalter
Was bleibt, ist ein Scherbenhaufen – für Investoren, für Mitarbeitende, und für die Reputation der Branche. Denn wo Vertrauen in Technologie durch Täuschung ersetzt wird, sind es oft die Nutzer und Geldgeber, die am Ende zahlen.
Im Falle einer Verurteilung drohen Saniger bis zu 20 Jahre Haft. Der Prozess wird zeigen, ob das US-Rechtssystem die Versprechen des Tech-Sektors ebenso hart misst wie dessen Börsenbewertungen.