Ein Verfahren, das größer ist als X
Die EU-Kommission bereitet offenbar eine Strafe gegen den Kurznachrichtendienst X vor, die es in sich hat: mehr als eine Milliarde Dollar. Der Vorwurf ist gravierend.
X, vormals Twitter, soll wiederholt gegen Auflagen des Digital Services Act (DSA) verstoßen haben – konkret bei der Bekämpfung von Desinformation, Hassrede und illegalen Inhalten.
Sollte die Strafe verhängt werden, wäre es das bislang schärfste Vorgehen der EU gegen eine Tech-Plattform. Und es wäre ein politisches Statement: Der DSA ist nicht bloß ein regulatorisches Werkzeug.
Er ist Brüssels Antwort auf die jahrelange Dominanz der US-Plattformen – und die erste echte Machtprobe, ob Europa das Internet nicht nur nutzen, sondern auch gestalten kann.
X im Visier: Weniger Kontrolle, mehr Chaos
Seit der Übernahme durch Elon Musk hat X ein Glaubwürdigkeitsproblem – und ein wachsendes Regulierungsthema. Die Content-Moderation wurde zurückgefahren, ganze Teams für Trust & Safety abgebaut.
Die Plattform verzeichnet laut mehreren Medienanalysen einen Anstieg an Falschinformationen, Gewaltaufrufen und gezielten Desinformationskampagnen – insbesondere rund um die Wahlen in Europa, den Nahost-Konflikt und Impfkampagnen.
Brüssel sieht hier keinen Einzelfall, sondern ein strukturelles Versagen. Der DSA verpflichtet Plattformen mit mehr als 45 Millionen EU-Nutzer:innen zur proaktiven Überwachung und Entfernung illegaler Inhalte.
Die Kommission hatte X im Herbst 2023 bereits mehrfach abgemahnt, unter anderem wegen fehlender Transparenzberichte und unzureichender Mechanismen zur Nutzerbeschwerde. Jetzt könnten Konsequenzen folgen.

Mehr als nur ein Bußgeld: Ein Machtspiel mit globaler Wirkung
Die angedrohte Strafe – mehr als eine Milliarde Dollar – liegt deutlich über dem, was EU-Institutionen bisher gegen Tech-Konzerne verhängt haben. Selbst die Verfahren gegen Google und Apple bewegten sich bisher meist im dreistelligen Millionenbereich. Warum also jetzt die Keule?
Die Antwort liegt in der Signalwirkung. X dient als Präzedenzfall. Die EU will demonstrieren, dass Verstöße gegen den DSA nicht folgenlos bleiben – und dass Plattformbetreiber, egal wie prominent, nicht über dem Gesetz stehen.
Für Musk ist es ein direkter Angriff auf sein Selbstverständnis von "absoluter Redefreiheit". Für die EU ein Härtetest: Kann Regulierung im digitalen Raum auch gegen Akteure durchgesetzt werden, die sich offen gegen sie stellen?
Musk, Trump, Brüssel – eine zunehmend politische Bühne
Der Fall hat auch eine geopolitische Dimension. Elon Musk gilt als Unterstützer und gelegentlicher Berater von Donald Trump, der wiederum die EU immer wieder als überregulierten Gegner der amerikanischen Wirtschaft darstellt.
Sollte die Strafe tatsächlich verhängt werden, ist mit harscher Rhetorik aus Washington zu rechnen – besonders im US-Wahljahr 2025.
Doch Brüssel hat sich in den letzten Jahren neu positioniert: Der Digital Services Act und sein Schwestergesetz, der Digital Markets Act (DMA), markieren einen Paradigmenwechsel. Weg vom Bitten, hin zum Durchgreifen. Die Kommission will mit gutem Beispiel vorangehen – und hofft, dass andere Jurisdiktionen, etwa Australien oder Kanada, folgen.
Wer kontrolliert die Plattformen – und wer kontrolliert die Kontrolle?
Kritiker des Vorgehens warnen vor einem regulatorischen Übergriff. Wo beginnt die legitime Bekämpfung von Hassrede – und wo endet Meinungsfreiheit? Wer definiert, was „Desinformation“ ist – insbesondere in polarisierten Zeiten, in denen auch Regierungen nicht frei von Propaganda sind?
Der Fall X wirft diese Fragen zwingend auf. Brüssel agiert mit einem Mandat für mehr Transparenz, aber auch mit politischem Kalkül. Und Elon Musk ist kein neutraler Akteur, sondern Unternehmer mit Ideologie.
Er selbst hatte X zur "globalen Plattform für freien Diskurs" erklärt – während unter seiner Leitung ausgerechnet der Schutz vor gezielten Desinformationskampagnen immer weiter abgebaut wurde.
Ein Präzedenzfall für alle Plattformen – nicht nur für Musk
Der Punkt ist: Diese Auseinandersetzung betrifft nicht nur X. Auch Meta, TikTok, Google, Amazon und Apple stehen unter verschärfter Beobachtung. Wenn die EU an X ein Exempel statuiert, geht es um mehr als einen einzelnen Dienst.
Es geht um die zentrale Frage, ob Plattformen in Europa noch frei nach eigenen Regeln agieren können – oder ob sie sich verbindlich dem europäischen Rechtsrahmen unterordnen müssen.
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