Deutschland steckt in einem Krankenstand, der Fragen aufwirft. Die Zahlen sind hoch, die Ursachen vielfältig, und die Debatte um mögliche "Drückebergerei" oder strukturelle Ursachen reißt nicht ab.
Während Unternehmen wie die Allianz und DHL Group über explodierende Krankheitsausfälle klagen, analysiert die Statistik eine wachsende Kluft im internationalen Vergleich. Was also steckt hinter Deutschlands Rekordwerten bei Krankheitstagen?
Deutschlands Spitzenwert bei Krankheitsquoten
Die Krankheitsquote in Deutschland markiert weltweit einen Rekordwert: Deutsche Arbeitnehmer melden sich im Vergleich zu anderen Industrienationen häufiger krank.
Laut Statistiken des BKK-Dachverbands betrug die durchschnittliche Anzahl an Krankheitstagen 2023 knapp 15 Tage pro Arbeitnehmer, ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu den elf Tagen im Jahr 2021. Besonders hoch fallen die Zahlen bei den DAX-Unternehmen aus, wo der Krankenstand im internationalen Vergleich häufig doppelt so hoch ist.
Oliver Bäte, Chef der Allianz, kritisierte erst kürzlich die Auswirkungen dieses Trends auf die deutsche Wirtschaft und erklärte, dass das deutsche BIP ohne die hohen Ausfallquoten stabiler wachsen könnte.
Psychische Belastungen und Atemwegserkrankungen als Hauptursachen
Einer der stärksten Treiber für den hohen Krankenstand sind psychische Erkrankungen. Daten der AOK zeigen, dass sich die Anzahl der krankheitsbedingten Ausfalltage aufgrund psychischer Belastungen seit 2014 um 47 Prozent erhöht hat.
Hoher Arbeitsdruck, wirtschaftliche Unsicherheiten und die Nachwirkungen der Pandemie sind hier als Faktoren zu nennen. Psychologe Hannes Zacher von der Universität Leipzig erklärt, dass Arbeitsverdichtung und fehlende Erholungszeiten bei vielen Arbeitnehmern zu langfristigen Belastungen führten.
Ähnliche Beobachtungen macht der DHL-Konzern, der betont, dass Transformationen im Unternehmen für steigende Fehlzeiten sorgen. Auch Atemwegserkrankungen gehören laut dem BKK-Dachverband weiterhin zu den Hauptursachen – ein Trend, der seit der Pandemie anhält.
Ist die telefonische Krankschreibung ein Problem?
Ein weiterer Faktor, den einige Unternehmen als Ursache vermuten, ist die seit Corona zugelassene telefonische Krankschreibung. Einige Arbeitgeber argumentieren, dass diese Regelung das „Blaumachen“ erleichtere und Krankmeldungen ansteigen lasse.
Lesen Sie auch:
Kritiker betonen allerdings, dass diese Annahme kaum belegbar sei, da Krankenkassen keine spezifischen Daten zur Methode der Krankschreibung erheben. Arbeitsmedizinerin Susanne Liebe vermutet, dass niedrigschwellige Krankmeldungen den Anstieg der Krankentage unterstützen könnten, betont jedoch, dass valide Beweise fehlen.
Onlineportale, die Atteste gegen Gebühr anbieten, werden jedoch zunehmend als Risiko für Missbrauchspotenziale wahrgenommen.
Die wirtschaftlichen Folgen der Krankmeldungen
Die finanziellen Belastungen durch die hohe Krankheitsquote spüren nicht nur Unternehmen, sondern auch die Gesamtwirtschaft. Schätzungen des VfA zufolge senkt der hohe Krankenstand die deutsche Wirtschaftsleistung um rund 0,4 Prozentpunkte.
Auch Arbeitgeberverbände zeigen sich besorgt: 76,7 Milliarden Euro zahlten deutsche Unternehmen 2022 für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Für viele Unternehmen, insbesondere im Pflege- und Dienstleistungsbereich, wird der Krankenstand zunehmend zur Herausforderung, die die Betriebskosten in die Höhe treibt und zu einer strukturellen Belastung für die deutsche Wirtschaft wird.
Überlastete Mitarbeiter und der Teufelskreis der Krankenstände
Das Fehlen von Kollegen erhöht oft den Druck auf die verbleibenden Mitarbeiter, die Lücken zu schließen – ein Kreislauf, der die Krankmeldungen weiter steigern kann. Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbands „Die Familienunternehmer“, betont, dass die Fachkräftelücke durch den Krankenstand verschärft wird, was wiederum zu mehr Fehlzeiten führt.
Diese Abwärtsspirale erfasst auch viele Pflegebetriebe und Krankenhäuser, wo Fachkräfte zunehmend auf eine Reduzierung der Arbeitszeit setzen, um ihre Gesundheit langfristig zu schützen. Unternehmen wie Covestro und Volkswagen spüren bereits die Auswirkungen auf Produktion und Schichtplanung.
Prävention als Lösung?
Das hohe Maß an Krankmeldungen ist für viele Unternehmen ein Anlass, intern gegenzusteuern. Programme zur Mitarbeitergesundheit und flexible Arbeitszeitmodelle, um psychische Belastungen abzufedern, könnten das Problem lindern.
Ebenso erhoffen sich Arbeitsmarktexperten, dass Maßnahmen wie Homeoffice und Gesundheitschecks nachhaltig zur Reduzierung der Krankheitsquote beitragen. Ein Rückkehr zur Praxis-Krankschreibung wird jedoch sowohl von Arbeitgebern als auch von Arbeitsmedizinern diskutiert, um „Blaumacherei“ zu erschweren.