Vom Supermarkt zur Werbeplattform
Wer bei Rewe heute nach passierten Tomaten sucht, bekommt nicht unbedingt das beste Angebot – sondern oft das, für das am meisten bezahlt wurde. Was Amazon vorgemacht hat, wiederholt sich jetzt in deutschen Supermärkten, Drogerien und Elektronikmärkten: Der Einzelhandel mutiert zur Mediaagentur, mit Kundenfrequenz als Werbewährung.
Was nach digitaler Effizienz klingt, ist in Wahrheit ein tiefgreifender Paradigmenwechsel.
Rewe, Edeka, Rossmann, Otto, MediaMarkt: Sie alle verdienen plötzlich mit Werbung – und zwar nicht zu knapp. Doch was passiert, wenn aus dem Regal ein Bildschirm wird? Und was, wenn nicht mehr Produktqualität, sondern Werbebudget über Sichtbarkeit entscheidet?
Milliardengeschäft mit Regalplätzen
Der Markt für „Retail Media“ wächst in Deutschland rasant. Laut aktuellen Prognosen werden Unternehmen allein 2025 rund 3,4 Milliarden Euro in Werbung auf Händlerplattformen investieren – mehr als je zuvor.
Rossmann rüstet 1.000 Filialen mit Displays aus, Edeka vermarktet 2.000 Märkte zentral, Rewe koppelt Werbeschaltungen an Kundenprofile. Händler verwandeln den Point of Sale in ein digitales Werbenetzwerk – gesteuert über KI, Datenprofile und Echtzeit-Performance. Für Marken ist das attraktiver als klassische Bannerwerbung im Netz – weil weniger Streuverlust und direktere Kaufimpulse.
Der Kunde – nur noch Datensatz im System?
Die Datenhoheit verschiebt sich. Während Cookies im Web aussterben, kennen Händler ihre Kunden besser denn je – über Treueprogramme, Zahlungsdaten, Online-Verläufe. Rewe zum Beispiel weiß heute, wer wann welche Produkte kauft – und wie oft. Diese Daten fließen in die personalisierte Werbeausspielung zurück.
Das klingt effizient – doch wo bleibt der Kunde als Entscheider? Beratungsqualität, neutrale Produktauswahl oder echte Preis-Leistung treten in den Hintergrund. Wer am meisten zahlt, wird sichtbar. Wer nicht zahlt, wird ausgeblendet – selbst wenn das Produkt besser wäre.
Wer bezahlt, gewinnt – auch bei Otto, Mediamarkt & Co.
Nicht nur Supermärkte, auch Elektronikketten und Versandhändler springen auf den Zug auf. Otto meldet einen zweistelligen Millionenumsatz mit Retail Media, Mediamarkt verdiente zuletzt 48 Millionen Euro – zwei Jahre vor Plan.

Bei beiden wird inzwischen die Sichtbarkeit im Onlineshop verkauft: Bezahlte Listings, Platzierungen im Warenkorb, Anzeigen in der Suchfunktion. Otto koppelt die Werbung direkt an die hauseigene Produktsuche – unterstützt von KI.
„Relevantere Ergebnisse“ heißt es offiziell. Kritiker wie Lars Hilsebein sprechen von „systematischer Verzerrung des Sortiments“.
Verpackt in KI, getrieben von Umsatzdruck
Anbieter wie Criteo oder Google liefern die technische Infrastruktur: Algorithmen, die berechnen, ob eine Anzeige den Klick wert ist – oder nicht. Was wie eine Qualitätskontrolle klingt, ist oft nur ein weiterer Filter fürs Werbebudget.
Denn die Performance entscheidet, nicht die Produktqualität: Was sich gut verkauft, wird weiter gepusht. Was keinen Return on Ad Spend liefert, verschwindet. Das stärkt große Marken – und verdrängt kleinere, innovationsstärkere Anbieter vom Radar der Kundschaft.
Neue Konkurrenz aus China: TikTok drängt auf den Werbemarkt
Während deutsche Händler noch damit beschäftigt sind, ihren Webshop zur Werbefläche umzubauen, rollt schon die nächste Welle: TikTok startet in Europa als E-Commerce-Marktplatz – inklusive eingebetteter Kauf-Buttons, Creator-Partnerschaften und Echtzeit-Verlinkung.
Was Amazon durch Algorithmus schafft, gelingt TikTok durch Influencer. Produktinformationen werden emotionalisiert, Kaufimpulse entstehen direkt im Clip. Das macht TikTok zur ernstzunehmenden Konkurrenz für Rewe, Otto und Co. – auch im Kampf um Werbebudgets.
Zwischen Kundenbindung und Kundenbelastung
Viele Händler sehen die Daten als Chance für „Relevanzsteigerung“. Doch die Grenze zwischen Service und Manipulation ist fließend. Wenn Werbung nicht mehr als solche gekennzeichnet wird, wenn Produktempfehlungen nur noch aus Einkaufsverträgen stammen, dann verliert der Kunde sein wichtigstes Gut: Vertrauen.
Torsten Ahlers von Mediamarkt warnt selbst vor Übertreibung. „Wir zeigen bewusst weniger Werbung als Amazon oder Otto“, sagt er – aus Angst, Kunden zu verlieren. Andere Anbieter hingegen setzen auf Wachstum um jeden Preis. Für viele Händler ist Werbung längst profitabler als Handel.
Das System frisst sich selbst
Retail Media ist die logische Antwort auf sinkende Margen und steigende Kosten im Einzelhandel. Doch der Boom könnte sich bald selbst ausbremsen. Wenn Kunden erkennen, dass die Produktauswahl manipuliert ist, drohen Abwanderung und Vertrauensverlust – vor allem gegenüber kleineren Marken, die sich die Werbeplätze nicht leisten können.
Langfristig könnte das sogar zu einer Marktverengung führen: Sichtbarkeit nur noch für Großkonzerne, Auswahlverarmung für Verbraucher. Die Revolution frisst ihre Vielfalt – und am Ende vielleicht auch die Händler selbst.
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