Das politische Erdbeben der vergangenen Monate hat viele Führungsstühle in den größten Industrienationen erschüttert. In Ländern wie Großbritannien, Amerika und Japan wurden amtierende Politiker aus dem Amt gedrängt, und auch Deutschlands Olaf Scholz erwartet im Februar ein schwerer Gang an die Wahlurnen. Emmanuel Macron erlebte eine herbe Niederlage bei den Parlamentswahlen, und in Kanada scheint Justin Trudeau kurz davor zu stehen, sich aus der Politik zurückzuziehen. Auch Charles Michel muss seinen Posten als Vorsitzender der EU-Gipfel im Dezember räumen.
Inmitten dieses politischen Tumults ragen zwei Frauen hervor: Italiens Premierministerin Giorgia Meloni, die noch nie zur Rechenschaft gezogen wurde, und Ursula von der Leyen, die als Präsidentin der Europäischen Kommission bis 2029 bestätigt wurde. Dies verdankt sie nicht nur ihrer Rolle in der Bewältigung von Covid-19 und der Ukraine-Krise, sondern auch ihrem geschickten Umgang mit den politischen Extremen auf dem Kontinent.
Von der Leyen hat ihre Position durch den Aufbau einer informellen Allianz aus ihrer eigenen Mitte-Rechts-Fraktion, den Sozialisten und der liberalen Renew-Gruppe gefestigt. Sie hat zudem mit den Grünen kooperiert, um ehrgeizige Klimaziele zu erreichen. Mehr umstritten war jedoch ihre Öffnung gegenüber der Rechten, insbesondere gegenüber der Partei von Giorgia Meloni. Während viele Politiker solch eine Annäherung kritisch sehen, argumentiert von der Leyen, dass Offenheit einen demokratischen Dialog fördern kann.
Die politische Realität könnte von der Leyens Ansatz bestätigen. Parteien, die am Rand des politischen Spektrums stehen, werden so in die Verantwortung genommen und erhalten die Möglichkeit, an der Ausgestaltung von Politik mitzuwirken. Dies zeigt, dass europäische Institutionen flexibel auf Meinungsverschiebungen reagieren können.
Brüssel kann jetzt nach Monaten des politischen Stillstands wieder an die Arbeit gehen. Vor von der Leyen liegt die Aufgabe, die Bürokratie abzubauen und die europäische Wirtschaft zu stärken. Auch die Debatte über die Verteidigungspolitik könnte sich durch geopolitische Entwicklungen in den USA verschärfen, während ein neuer, entschlossener Außenbeauftragter, Kaja Kallas, frischen Wind in die Ukraine-Diskussion bringen könnte.