Der kanadische Premierminister Justin Trudeau hat überraschend seinen Rücktritt als Parteivorsitzender der Liberalen sowie als Regierungschef in Aussicht gestellt. Er bleibt jedoch so lange im Amt, bis eine Nachfolge geregelt ist. Diese Ankündigung erfolgte während einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz in Ottawa. Trudeau betonte, dass er einer echten Auswahl bei der kommenden Wahl den Vorrang geben möchte, und erkannte, dass interne Auseinandersetzungen seiner Eignung als Spitzenkandidat im Weg stehen.
Trudeau führte die liberale Partei seit elf Jahren und bekleidete seit Ende 2015 das Amt des Premierministers. Obgleich er anfänglich mit seinen Versprechen einer "positiven Politik" viele begeisterte, häuften sich zuletzt die kritischen Stimmen. Vorwürfe über nicht eingelöste Versprechen, steigende Lebenshaltungskosten und Wohnraummangel belasteten seine Amtsführung. Der wachsende Druck auf den Premier äußerte sich in sinkenden Umfragewerten und zunehmenden Rücktrittsforderungen – auch aus den eigenen Reihen.
Besondere Brisanz erhält die politische Lage durch den Rücktritt von Trudeaus Stellvertreterin und Finanzministerin Chrystia Freeland. Freeland, die als potenzielle Nachfolgerin gehandelt wird, verließ die Regierung nicht ohne Kritik. Uneinigkeit über den zukünftigen Kurs Kanadas brachte sie in ihrem Rücktrittsschreiben zum Ausdruck. Als Reaktion kündigte Trudeau eine Kabinettsumbildung an.
Derweil steht Kanada möglicherweise vor einer vorgezogenen Wahl, da die mitregierende Neue Demokratische Partei ihr Vertrauen in Trudeau aufkündigte und ein Misstrauensvotum im Raum steht. In der Wählergunst liegt derzeit die Konservative Partei unter Pierre Poilievre mit rund 40 Prozent deutlich vor den Liberalen mit etwa 20 Prozent. Poilievre, der mit seinen populistischen Positionen polarisiert, hat unter anderem den Bau neuer Wohnhäuser im Falle eines Wahlsiegs versprochen.
Historisch betrachtet haben die Liberalen mit ihrer dominierenden Rolle zwischen Zentrum und Mitte-Links die politische Landschaft Kanadas maßgeblich geprägt. Nun jedoch gerät diese Vormachtstellung ins Wanken, während das flächenmäßig zweitgrößte Land der Welt und G7-Mitglied mit seinen etwa 40 Millionen Einwohnern vor einem möglichen politischen Umbruch steht.