Kaum im Amt, sieht sich Ahmed al-Scharaa mit einer Zerreißprobe konfrontiert. Der frisch ernannte Übergangspräsident Syriens, Anführer der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS), betont offiziell den Willen zur nationalen Einheit und spricht von Modernisierung und Wiederaufbau.
Doch hinter den Kulissen zeichnen sich erste Brüche ab. Al-Scharaa präsentiert sich als Staatsmann im westlichen Anzug, während seine Minister leise, aber bestimmt islamistische Reformen einleiten.
Ein Land im Wandel – mit fragwürdigen Versprechungen
Bereits kurz nach dem Sturz des Assad-Regimes Anfang Dezember 2024 macht die HTS Nägel mit Köpfen: Stromgeneratoren aus der Türkei, Flugverbindungen und Infrastrukturprojekte sollen die Bevölkerung beruhigen.
Doch die Maßnahmen, so Beobachter, scheinen lediglich ein Feigenblatt zu sein. Islamisierungstendenzen werden zügig vorangetrieben, noch bevor die geplante Nationalkonferenz mit Delegierten aus ganz Syrien stattgefunden hat.
Einige Minister sprachen sich bereits öffentlich für die Einführung der Scharia aus. Auch die Armee erhält neue Richtlinien, die alle Soldaten verpflichten, einen Scharia-Kurs zu absolvieren. Ein Lehrplanwechsel in Schulen, der Evolutionstheorie durch Märtyrer-Ethos ersetzt, sorgt für zusätzliche Spannungen.
Widerstand formiert sich
Al-Scharaa steht vor einem wachsenden Widerstand, insbesondere in den von Minderheiten dominierten Regionen. Die Alawiten, einst privilegiert unter dem Assad-Regime, leben in Angst vor Vergeltung.
Auch die Drusen im Süden zeigen klare Abgrenzung. Eine drusische Miliz verhinderte jüngst den Einzug eines HTS-Militärkonvois in ihre Provinz.
„Religiöse Herrschaft hat Syrien nur in den Abgrund geführt,“ kritisiert Drusenführer Scheich Marwan al-Rizq offen.
Auch die autonomen Kurdengebiete im Nordosten, die für ihre moderate Haltung und Gleichstellungspolitik bekannt sind, zeigen wenig Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der HTS.
Viele Beobachter vermuten, dass al-Scharaa versucht, seine Machtbasis zu festigen, bevor echte Verhandlungen über eine neue Verfassung beginnen.
Die internationale Perspektive
Während al-Scharaa offiziell eine friedliche Zukunft für Syrien propagiert, wachsen die Sorgen unter westlichen und regionalen Mächten. Annalena Baerbock, die deutsche Außenministerin, betonte bei ihrem Besuch in Damaskus die Notwendigkeit einer pluralistischen Regierungsform.
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Doch selbst diplomatische Gesten wie der Besuch von Religionsführern zeigen wenig Wirkung: Al-Scharaa verweigerte Baerbock demonstrativ den Handschlag, ein Symbol für die Distanz zu westlichen Werten.
Gleichzeitig verstärkt die Türkei ihren Einfluss im Nordwesten Syriens. Die türkische Unterstützung für die Syrische Nationale Armee (SNA), die gegen kurdische Gebiete vorgeht, könnte den Konflikt verschärfen. Auch Jordanien beobachtet die Entwicklungen mit Argwohn und unterstützt weiterhin andere Rebellengruppen, um den Einfluss der HTS zu begrenzen.
Fragiles Gleichgewicht oder neuer Konflikt?
Obwohl al-Scharaa als Übergangspräsident eine fragile Balance zwischen den verschiedenen Interessen wahren muss, bleibt die Gefahr eines erneuten Bürgerkriegs real.
Die Risse im syrischen Gefüge sind tief. Mit einer Bevölkerung, die mehrheitlich muslimisch, aber kulturell und religiös divers ist, könnten die Versuche einer einheitlichen Islamisierung das Land weiter destabilisieren.