Die große Entzauberung der Klassiker
Die Packung ist noch da – aber der Käse fehlt. Seit Mars 2019 beschloss, den Reibekäse aus der Mirácoli-Schachtel zu streichen, wirkt das einstige Kultprodukt wie ein Symbol für das Dilemma der gesamten Branche.
Einfallslosigkeit trifft auf Kostendruck, während die Kundschaft längst woanders sucht, was sie früher bei Maggi, Thomy oder Dr. Oetker fand: echte Lösungen für den modernen Alltag.
Der langsame Rückzug ins Altbekannte
Mars stellt das Berliner Fitness-Food-Start-up Foodspring wieder ein. Der Versuch, mit Proteinriegeln und Vitamintropfen in den wachsenden Markt personalisierter Ernährung vorzustoßen, scheitert sang- und klanglos.
Und Mars ist kein Einzelfall. Auch Unilever und Nestlé veräußern, verschlanken, drehen am Sparhebel – aber wagen selten etwas wirklich Neues. Die Folge: Marktanteile wandern stillschweigend ab. An kleinere, schnellere, hungrigere Wettbewerber.
Mit Vollgas Richtung Stillstand
Nestlé hat in Deutschland ein Drittel seines Umsatzes eingebüßt – von 3,3 Milliarden Euro (2013) auf 2,0 Milliarden Euro. Der neue Chef Laurent Freixe setzt auf Werbebudget statt Wandel.
Gleichzeitig läuft hinter den Kulissen die Vorbereitung auf eine neue Generation von Kunden: jene, die dank Ozempic keinen Appetit mehr auf Schokoriegel, Chips oder Limo verspüren. In den USA sinkt der Schokoladenabsatz, während nährstoffoptimierte Trinkmahlzeiten boomen. Die Industrie schaut zu – und reagiert zögerlich.

Wenn die Verpackung moderner ist als das Produkt
Bahlsen wollte 2018 mit einem frischen Look die Jugend gewinnen – und verschreckte die Stammkunden. Die avantgardistischen Verpackungen wurden später wieder zurückgenommen.
Mehr als ein Makeover war aus der unternehmerischen Vision von Verena Bahlsen nicht geworden. Ihr Rückzug folgte, wie so oft in der Branche, still.
Warum neue Ideen zu selten überleben
Der Grund liegt tief in der DNA der Branche: Sicherheit schlägt Mut. Investoren erwarten verlässliche Dividenden, nicht riskante Produktideen mit Anlaufkosten. Deshalb werden große Marken immer weiter optimiert – ein bisschen weniger Zucker hier, eine neue Portionsgröße da.
Doch wirklich neue Impulse bleiben Mangelware. Dabei wären sie dringend nötig: Die Kundenwünsche verändern sich schneller als die Regale.
Der Markt schrumpft – die Botschaften nicht
Die alte Werbewelt – „Heute ist Mirácoli-Tag“ – funktioniert nicht mehr. TikTok, YouTube und Instagram fragmentieren die Aufmerksamkeit, während Fitness- und Gesundheitsbewusstsein die klassischen Snack-Kategorien unter Druck setzen.
Hinzu kommt der kulturelle Wandel: 74 % der Deutschen blicken laut Bosch-Stiftung kritisch auf ungesunde Fertiggerichte – ein Imageverlust, der sich nicht mit Rabattaktionen oder Retro-Werbespots reparieren lässt.
Konservatismus mit System
Haribo wächst in den USA – mit denselben Goldbären wie vor 40 Jahren. Dr. Oetker hat seit den 1970er-Jahren keine nennenswerte Produktkategorie mehr erfunden. Und auch bei Nestlé, Mondelez oder Kraft Heinz dreht sich alles um Portfolio-Optimierung statt Neudefinition.
Wer zu früh in gesunde Alternativen investiert, wird an der Börse bestraft – wie einst Pepsico-Chefin Indra Nooyi, die 2018 gehen musste, weil sie zu sehr auf Vollkorn und Frucht setzte.
Was bleibt, ist Stillstand – gut verpackt
Der Preis für die Mutlosigkeit ist langfristig hoch: Wer heute nicht in den Geschmack der Zukunft investiert, verliert morgen seine Kundschaft.
Die Beispiele von Foodspring, Bahlsen, Nestlé & Co. zeigen: Der Wille zur Innovation ist oft vorhanden – aber der Mut zur Umsetzung fehlt. Die Lebensmittelindustrie ist dabei, den Anschluss zu verlieren. Und niemand kann sagen, sie sei nicht gewarnt worden.
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