„Der Status quo ist keine Option“
Bayer-Chef Bill Anderson hat am Freitag für einen Moment innegehalten – und dann ausgesprochen, was bislang als rote Linie galt: Ein Rückzug aus dem Glyphosat-Geschäft in den USA sei nicht mehr ausgeschlossen.
„Wir kommen langsam an einen Punkt“, so Anderson in einer vorbereiteten Rede zur Hauptversammlung am 25. April, „an dem uns die Klageindustrie zwingen könnte, die Vermarktung dieses systemkritischen Produktes einzustellen.“
Damit bringt Anderson erstmals eine Option ins Spiel, die für Bayer wirtschaftlich wie symbolisch einem Erdbeben gleichkäme. Glyphosat, seit der Monsanto-Übernahme das wohl bekannteste – und teuerste – Produkt im Portfolio, könnte in seinem wichtigsten Markt Geschichte sein.
Nicht, weil Bayer es will. Sondern weil die finanzielle Last der Rechtsstreitigkeiten zu groß geworden ist.
Der Milliardenstreit, der nicht enden will
Über 100.000 Klagen sind in den USA bereits gegen Bayer anhängig – der Vorwurf: Glyphosat, insbesondere in der Marke „Roundup“, stehe im Verdacht, krebserregend zu sein.
Bayer bestreitet diesen Zusammenhang bis heute. Dennoch hat der Konzern bereits mehr als 10 Milliarden Dollar für Vergleiche ausgezahlt – und die Welle reißt nicht ab.
Allein im ersten Quartal 2025 musste Bayer Rückstellungen in Höhe von 1,3 Milliarden Euro für Rechtsrisiken bilden. Die Klageindustrie in den USA habe sich, so Anderson, zu einer „eigenständigen wirtschaftlichen Kraft“ entwickelt, deren Geschäftsmodell auf Eskalation setze.
Bayer wirkt in diesem Szenario nicht mehr wie ein globales Chemie- und Pharmaunternehmen – sondern wie ein angeschlagener Versicherer auf Zeit.
Ein Schritt mit dramatischen Folgen
Ein Rückzug vom US-Markt wäre für Bayer nicht nur ein Eingeständnis der Ohnmacht, sondern auch ein wirtschaftlicher Einschnitt. Rund ein Viertel der Glyphosat-Umsätze werden in Nordamerika erzielt.

Ein Ausstieg würde Lieferketten, Kundenbeziehungen und nicht zuletzt das Vertrauen der Investoren erschüttern. Gleichzeitig: Der Status quo ist nicht haltbar. Bayer kämpft mit einem zweistelligen Milliardenverlust, sinkendem Aktienkurs und dem Verlust an Bonität.
Die Lösung? Noch ist sie nicht in Sicht. Bayer prüfe laut Anderson aktuell alle Optionen, darunter auch neue Vergleichsangebote – allerdings nur, wenn diese „bestimmte Kriterien“ erfüllen. Welche genau, blieb offen. Die Botschaft war dennoch klar: Es geht nicht mehr ums Ob, sondern ums Wie.
Kapitalerhöhung als Notbremse
Parallel bittet Bayer seine Aktionäre um Rückendeckung – für eine mögliche Kapitalerhöhung um bis zu 35 Prozent. Zwar gebe es aktuell „keine konkreten Pläne“, dieses genehmigte Kapital zu nutzen.
Doch im Ernstfall könne es helfen, die Klagerisiken zu entschärfen und das Kreditrating zu stabilisieren. Anderson betonte, dass dieses Kapital ausschließlich zur Lösung der US-Rechtsstreitigkeiten eingesetzt werde.
Es ist ein Balanceakt: Der Kapitalmarkt erwartet Bewegung, die Aktionäre Stabilität – und die Kreditgeber Bonität. Bayer versucht, alle Seiten zu bedienen. Doch mit jedem Quartal wird klarer, dass die Zeit gegen den Konzern spielt.
Eine Entscheidung mit Signalwirkung
Ein Rückzug aus den USA wäre nicht nur ein Signal an die Klägeranwälte – sondern auch an die gesamte Agrarindustrie. Glyphosat ist noch immer eines der weltweit meistverwendeten Unkrautvernichtungsmittel. Millionen Landwirte weltweit sind von der Verfügbarkeit des Produkts abhängig – und auch von der Preisstabilität, die ein dominanter Anbieter wie Bayer bislang gewährleistete.
Fällt Bayer als Hauptanbieter weg, dürfte sich der Markt neu sortieren – möglicherweise mit Folgen für Preise, Verfügbarkeit und regulatorische Standards. Gleichzeitig könnte ein solcher Schritt die Tür öffnen für neue, weniger umstrittene Produkte – ein technologischer wie politischer Neuanfang.
Der Schatten von Monsanto
Die Entscheidung, Monsanto 2018 für über 60 Milliarden Dollar zu übernehmen, ist rückblickend einer der folgenschwersten Deals in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Klagen, die mit der Akquisition übernommen wurden, haben sich zum strukturellen Risiko entwickelt – und werfen bis heute Fragen zur Sorgfalt der damaligen Strategie auf.
Anderson, der erst 2023 die Führung von Bayer übernahm, versucht nun, den Konzern neu aufzustellen. Doch der Monsanto-Schatten reicht bis in seine Vorstandsetage. Die Glaubwürdigkeit, mit der Bayer kommuniziert, wird auch daran gemessen, ob man die Konsequenzen früherer Fehler nun offen benennt – oder weiter vertuscht.