Der europäische Einigungsprozess scheint untrennbar mit Krisen verbunden zu sein. So jedenfalls beschrieb es der Gründervater der Europäischen Union, Jean Monnet, als er die Notwendigkeit betonte, dass Europa die Summe seiner Lösungen aus Krisensituationen ist. Ein gedankliches Szenario für das Jahr 2025 lässt eine solche Krise am östlichen Rand der EU andeuten, bei der die USA möglicherweise zögern zu intervenieren. Eine Lösung könnte sein, sich auf gemeinsam ausgegebene Schulden zu einigen – ein Werkzeug, das schon einmal erfolgreich aus der Not entstanden ist. Doch ironischerweise könnte Frankreich, Monnets Heimat, die größte Hürde dabei darstellen.
Bislang hat es in stabilen Zeiten stets an der Bereitschaft zu kohärenten und weitsichtigen Reformen gemangelt. Hochfliegende Pläne wie die Bankenunion wurden immer wieder durch die Weigerung wohlhabenderer Länder, ihre Steuerkraft zu teilen, verwässert – mit Deutschland als oft führendem Bremser. In Krisenzeiten zeigt sich jedoch: Reformen sind machbar. 2012 wurde der Europäische Stabilitätsmechanismus geschaffen. Und 2022, inmitten der Pandemie, gab die Union rund 800 Milliarden Euro an EU-weiten Schulden aus, um die Mitgliedstaaten beim Wiederaufbau zu unterstützen.
Mit der möglichen Wahl von Friedrich Merz zum deutschen Kanzler könnte die Bereitschaft zu weiteren gemeinsamen Finanzprojekten erschwert werden. Seine Partei steht traditionell dagegen, EU-Ressourcen zu bündeln. Kombiniert mit Frankreichs politischer Unsicherheit – ausgelöst durch den Rücktritt Michel Barniers – wächst das Risiko, dass die Eurozonen-Schlüsselspieler zurückhaltender agieren.
Und dennoch: Ein Comeback von Donald Trump im Weißen Haus könnte die Dinge so sehr zuspitzen, dass ein Durchbruch möglich wird. Eine von ihm ausgehandelte, womöglich nachteilige Beendigung des russischen Kriegs in der Ukraine könnte den Kreml-Chef Wladimir Putin veranlassen, andere Staaten an der NATO-Grenze zu bedrohen. Die EU müsste prompt reagieren und aufrüsten.
Weitere 500 Milliarden Euro an Verteidigungsausgaben könnten notwendig sein, um die Sicherheit in Europa zu gewährleisten. Gemeinsame Schulden erscheinen da als naheliegende Lösung. Der gegenwärtige Anstieg der Verteidigungsausgaben auf über 300 Milliarden Euro wird vor allem von wenigen Staaten wie Deutschland und Polen getragen. Europaweite Anstrengungen könnten die Last gerecht verteilen und ökonomische Vorteile durch den gemeinsamen Einkauf bei Rüstungsfirmen ermöglichen.
Probleme bleiben nicht aus: Politische Machtkämpfe und Diskussionen über die Verteilung der Mittel zwischen großen Verteidigungsindustrien wie Frankreich und kostengünstigeren Produkten anderswo in der EU sind zu erwarten. Länder mit pro-russischer Haltung wie Ungarn könnten argumentieren, dass solche Maßnahmen gegen europäische Verträge verstoßen.
Dennoch: Frankreich unterstützt als eines der ersten Länder die Idee einer gemeinsamen EU-Verteidigungsanleihe. Projekte wie ein zwischenstaatlicher Fonds, ähnlich dem ESM, könnten den Weg ebnen. Auch Nicht-EU-Staaten wie das Vereinigte Königreich oder Norwegen könnten mitmachen, was zusätzliche Finanzierungsquellen eröffnen würde.
Die Energiekrise von 2022 zeigte bereits, dass die EU in der Lage ist, rasch ihren Kurs zu ändern. Im Angesicht einer neuen Krise könnte Merz als überzeugender Befürworter für gemeinsame Schulden auftreten, falls die Lage ernst genug wird. Jean Monnet könnte ein weiteres Mal Recht behalten.