Mario Draghi, der frühere Chef der Europäischen Zentralbank und ehemalige italienische Premierminister, hat seinen mit Spannung erwarteten Bericht zur europäischen Wirtschaft vorgelegt. In diesem Bericht werden sowohl Ziele als auch düstere Warnungen hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung des Staatenbunds formuliert, sollte es nicht gelingen, die wirtschaftlichen Hindernisse der EU zu bewältigen.
Im Gespräch mit Journalisten in Brüssel bemerkte Draghi, dass "wir zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg tatsächlich um unser Überleben fürchten müssen."
Draghi, der maßgeblich an der Bewältigung der Eurozonen-Schuldenkrise von 2009-2010 beteiligt war, hatte den Bericht von der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, vor rund einem Jahr in Auftrag bekommen.
Der Bericht fordert eine bedeutende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik sowie enorme Investitionen in die europäische Wirtschaft. Laut Draghi sind diese Schritte notwendig, um zu verhindern, dass die EU weiter hinter die USA und China zurückfällt.
Zu den Empfehlungen gehören die Lockerung der Wettbewerbsregeln zur Ermöglichung von Marktkonsolidierung in verschiedenen Sektoren, die Zentralisierung der Marktaufsicht zur Integration der Kapitalmärkte, gemeinsame Beschaffungen im Verteidigungssektor und eine neue Handelsagenda zur Erhöhung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Staatenbunds. Ein koordinierter Vorstoß zur Dekarbonisierung wird ebenfalls als notwendig erachtet.
Draghi zufolge erfordert die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU jährliche zusätzliche Investitionen in Höhe von 750-800 Milliarden Euro (828-883 Milliarden Dollar), was 4,4-4,7% des EU-BIP entspräche. Dies wäre das höchste Investitions-BIP-Verhältnis in Europa seit den 1970er Jahren.
Er räumte ein, dass es dem privaten Sektor allein schwerfallen würde, diese Investitionen zu tragen. Daher sei eine Form der gemeinsamen Finanzierung erforderlich.
Diese gemeinsame Finanzierung würde auch zur Unterstützung öffentlicher Güter wie einer gemeinsamen Energieinfrastruktur und Verteidigungsausgaben genutzt werden.
Draghi betonte, dass seine Empfehlungen zwar nicht der einzige Weg seien, aber behauptete, dass "es entweder 'macht dies, oder es ist ein langsamer Niedergang' bedeute." Er fügte hinzu: "Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir ohne Maßnahmen entweder unser Wohlergehen, unsere Umwelt oder unsere Freiheit kompromittieren müssen."
Europa steht bereits vor wirtschaftlicher Stagnation, einem Krieg an seiner Grenze und dem Aufstieg rechtsextremer Parteien auf dem gesamten Kontinent.
Trotzdem ist die Aussicht auf gemeinsame EU-Schulden angesichts der bestehenden Probleme für einen EU-Diplomaten völlig unakzeptabel.
Deutschlands Finanzminister Christian Lindner lehnte diesen Vorschlag ebenfalls schnell ab und argumentierte, dass das Zusammenlegen von "Risiken und Haftung demokratische und fiskalische Probleme schafft." Er betonte: "Deutschland wird dem nicht zustimmen."