Die komplexe Realität der deutschen Rentenlandschaft: Zwischen vermeintlicher Stabilität, Rekordrücklagen und Prognosen bis 2050
Eine längere Erwerbszeit und höhere Beitragszahlungen – ist das die Lösung für die künftige Rentenlandschaft in Deutschland?
Die Illusion der Stabilität im deutschen Rentensystem
Der aktuelle Rentenbericht der Bundesregierung lässt zunächst aufhorchen und suggeriert eine gewisse Stabilität im deutschen Rentensystem. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die Realität düstere Schatten wirft.
Manchmal sind es Sätze, die wie ein Damoklesschwert über den Verantwortlichen schweben. So auch der Ausspruch:
„Die Rente ist stabil und bleibt stabil“, den Gundula Roßbach, die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung Bund, im März dieses Jahres tätigte.
Ein Satz, der in seiner Bedeutung ebenso heikel ist wie Norbert Blüms legendäres „Die Rente ist sicher“ aus dem Jahr 1986.
Doch hat sich die Lage wirklich verändert? Steht es tatsächlich besser um unsere Rentenaussichten, als die wiederholten Warnungen suggerieren?
Ein gewisser Optimismus schwingt zumindest in Teilen des Rentenversicherungsberichts 2023 mit, der alljährlich von der Bundesregierung erstellt wird, um die Zukunft der gesetzlichen Altersvorsorge zu skizzieren. Ein vermeintlich rosiges Bild wird gezeichnet, aber die Realität gibt wenig Anlass zum Jubeln.
Optimismus im Rentenversicherungsbericht 2023
Vorübergehend sind hohe Rücklagen in Höhe von geschätzten 44,5 Milliarden Euro zum Jahresende in Aussicht, so die Einschätzung der Bundesregierung. Diese dienen als Nachhaltigkeitsrücklage, um in wirtschaftlich schwierigen Zeiten fehlende Einnahmen auszugleichen und somit Beitragserhöhungen zu vermeiden.
Diese Summe stellt einen Rekord dar, verglichen mit den Reserven der Jahre zuvor: 2022 waren es 42,8 Milliarden Euro, im Jahr davor knapp 39 Milliarden Euro, und 2020 etwas mehr als 37 Milliarden Euro. Im Jahr von Norbert Blüms berühmtem "Die Rente ist sicher"-Ausspruch beliefen sich die Rücklagen auf rund 9 Milliarden Euro.
Jahr
Rücklagen in Milliarden Euro
2023
44,5
2022
42,8
2021
39,0
2020
37,0
1986
9,0
Rekordrücklagen und Arbeitsmarktreserven
Der Hauptgrund für diese außergewöhnlichen Reserven liegt im Arbeitsmarkt: Im dritten Quartal 2023 waren mit 46,04 Millionen Beschäftigten so viele Menschen wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik in einem Arbeitsverhältnis.
Gleichzeitig stiegen im Verlauf des Jahres an vielen Orten die tariflichen Löhne, Gehälter und der Mindestlohn.
„Die Einnahmen der Rentenversicherung aus beitragspflichtiger Erwerbstätigkeit verzeichnen von Januar bis Oktober 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen Anstieg von 5,4 Prozent“, kommentierte Rentenpräsidentin Roßbach den Rentenversicherungsbericht gegenüber der Presseagentur dpa.
Rentenerhöhungen und ihre Ursachen
Die Rentenerhöhungen verzeichnen einen Anstieg von 43%. Dies spiegelt sich auch in den Rentenbezügen wider, die im aktuellen Jahr im gesamten Bundesgebiet durchschnittlich um knapp 5% gestiegen sind. Die Prognose der Bundesregierung für das Jahr 2024 sieht eine Steigerung von 3,5% vor.
Bis zum Jahr 2037 wird laut einem Bericht erwartet, dass die Renten insgesamt um knapp 43% ansteigen werden, was einer durchschnittlichen jährlichen Erhöhung von 2,6% entspricht.
Ausblick auf das Rentenniveau bis 2025
Was das Rentenniveau betrifft, das die Durchschnittsrente im Verhältnis zum Durchschnittsgehalt misst, gibt die Bundesregierung einen Ausblick bis 2025. Derzeit liegt das Rentenniveau bei knapp 48,2%. Das bedeutet, dass jemand, der jedes Jahr über 45 Beitragsjahre hinweg genau das Durchschnittsentgelt verdient und dann in den Ruhestand geht, 48% dieses Durchschnittseinkommens als Nettorente vor Steuern erhält.
Für das kommende Jahr wird erwartet, dass das Rentenniveau knapp über 48% bleibt. Im Jahr 2025 soll eine Haltelinie eingeführt werden, um sicherzustellen, dass das Rentenniveau nicht unter diese Grenze fällt.
Ohne diese Maßnahme geht die Bundesregierung davon aus, dass das Rentenniveau bis 2030 wahrscheinlich auf 46,9% und bis 2037 auf 45% sinken würde. Obwohl die Haltelinie derzeit nur bis 2025 gilt, plant die Bundesregierung, sie zu verlängern, obwohl noch keine endgültige Entscheidung getroffen wurde.
Warum erleben wir einen Rückgang des Rentenniveaus?
Zum Ende der 1970er Jahre lag das Rentenniveau noch bei 59,8%, im Jahr 1990 bei 55%, und bis 2012 sank es auf 49,4%. Die Renten im Verhältnis zum Einkommen gehen zurück. Doch was sind die Ursachen dafür? Der Hauptgrund liegt darin, dass unsere Gesellschaft kontinuierlich altert. Dies führt dazu, dass einer zunehmenden Anzahl von Rentnern immer weniger Beitragszahler gegenüberstehen.
Dies stellt ein Problem dar, da unser Rentensystem auf dem sogenannten Umlageverfahren basiert. Die gegenwärtig Erwerbstätigen finanzieren die Renten der heutigen Rentner, und die zukünftigen Beitragszahler werden die Renten der kommenden Rentner finanzieren. Dieses Prinzip wird auch als Generationenvertrag bezeichnet.
Während Anfang der 1960er Jahre in Westdeutschland noch sechs Erwerbstätige auf einen Rentner kamen, müssen heute knapp zwei Beschäftigte den Ruhestand eines Rentners finanzieren.
Die finanzielle Dimension: Kosten für einen Rentenpunkt
Für den Erwerb eines Rentenpunkts fallen Kosten in Höhe von 8.024,41€ an. Doch wie kann gewährleistet werden, dass das Rentenniveau vorerst nicht weiter absinkt? Die Lösung hierfür soll ein steigender Rentenwert bieten. Der gegenwärtige Wert eines Rentenpunkts beträgt in Deutschland 37,60€.
Das bedeutet, dass jeder, der in diesem Jahr einen Rentenpunkt erwirbt, seine zukünftige Rente um 37,60€ erhöht. In den kommenden Jahren soll dieser Wert weiterhin gesteigert werden – jeweils in einem Maß, das sicherstellt, dass die Standardrente hoch genug ist, um ein Rentenniveau von mindestens 48% zu erreichen.
Die Notwendigkeit eines steigenden Rentenwerts
Es ist wichtig zu bedenken, dass Rentenpunkte im Laufe der Zeit nicht nur an Wert gewinnen, sondern auch teurer werden. Dies liegt daran, dass die erforderlichen Einzahlungen zur Sicherung eines Rentenpunkts auf dem jeweils aktuellen Durchschnittseinkommen basieren, das im vergangenen Jahr gestiegen ist.
Im Jahr 2021 mussten beispielsweise im Westen Deutschlands 8.024,41€ in die Rentenkasse eingezahlt werden, um einen Rentenpunkt zu erwerben, während es im Jahr 2022 noch 7.235,59€ waren.
Deutschland vereint: Einheitlicher Rentenwert in Ost und West
Fast genau 33 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland nun auch in Bezug auf die Rente ein Stück weit vereinter. Im Jahr 2023 gilt erstmals in Ost und West derselbe Rentenwert von 37,60€ pro Rentenpunkt.
Verlauf des Rentenwerts
Die lang ersehnte Gleichstellung der Renten ist nun erfolgt, und dies wurde durch unterschiedliche Anpassungen des Rentenwerts in den vergangenen Jahren ermöglicht. Im Sommer dieses Jahres stieg beispielsweise der Rentenwert im Osten um 5,86%, während er im Westen um 4,39% anstieg.
Dennoch bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass Rentner in Ost- und Westdeutschland nun die gleiche Rente erhalten. Die individuelle Rentenhöhe hängt nach wie vor von der persönlichen Erwerbsbiografie ab, das heißt von der Dauer der Einzahlungen und dem vorherigen Einkommen.
Der Unterschied wird nur bei identischen Einkommen deutlich: "Ein Rentner aus den alten Bundesländern, der bisher 1.000€ Rente bezog, erhält nun 1.043,90€. Die gleich hohe Rente einer Person aus den neuen Bundesländern ist sogar auf 1.058,60€ gestiegen", lautet die Berechnung der Bundesregierung.
Inflation als Einflussfaktor in der Rentenversicherung
Die Inflation kann also gewissermaßen als Segen für die Rentenversicherung betrachtet werden. Die stark steigenden Preise führten oft zu überdurchschnittlichen Lohnerhöhungen, die wiederum die Einzahlungen in die Rentenkasse ankurbelten.
Stabilität und Trugschluss im deutschen Rentensystem
Der Beitragssatz soll bis 2027 stabil bei 18,6% bleiben, wobei Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils die Hälfte davon tragen. Doch die vermeintlich positive Perspektive des deutschen Rentensystems trügt, da der Bericht darauf hinweist, dass die Zukunft weniger rosig ist.
Der Beitragssatz wird voraussichtlich ab 2027 allmählich ansteigen, wobei die Erwerbstätigen bis 2030 einen prognostizierten Satz von 20,2% und bis 2037 einen geschätzten Satz von 21,1% zahlen sollen, wie aus dem Bericht hervorgeht. Veränderungen in der Regelaltersgrenze bis 2031
Die Regelaltersgrenze für den Renteneintritt wird ebenfalls weiter nach hinten verschoben. Bis 2031 soll sie schrittweise auf 67 Jahre ansteigen, wobei die Regelaltersgrenze im Januar 2024 für alle 1958 Geborenen zunächst auf 66 Jahre angehoben wird.
Diejenigen, die mindestens fünf Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, haben Anspruch auf die Regelaltersrente. Für besonders langjährig Versicherte, die mindestens 45 Jahre gearbeitet haben, besteht die Möglichkeit, etwas früher in Rente zu gehen. Bis 2029 soll sich diese Grenze auf 65 Jahre erhöhen.
Insgesamt steht die Deutsche Rentenversicherung im Jahr 2023 besser da als in früheren Jahren. Die Rente ist gestiegen, es gilt erstmals ein einheitlicher Rentenwert, und Gesetze sollen zumindest für die kommenden Jahre ein weiteres Absinken des Rentenniveaus verhindern.
Die Rentenlage ist vorerst stabil, doch die Frage bleibt, ob dies Anlass zur Freude sein sollte. Eine Veränderung im Rentensystem wäre womöglich wünschenswert.
Jahr
Beitragssatz in % (Arbeitgeber/Arbeitnehmer)
Regelaltersgrenze
Bis 2027
18,6 (50%/50%)
-
2030 (progn.)
20,2 (progn.)
-
2037 (gesch.)
21,1 (gesch.)
67
Jan. 2024
-
66 (für 1958 Geborene)
2029
-
65 (für besonders langjährig Versicherte)
Die enttäuschende Realität der Nettoersatzrate
Die Realität, dass ein Arbeitnehmer in Deutschland bei einem durchschnittlichen Gehalt weniger als die Hälfte als Nettorente vor Steuern erhalten wird, ist sicherlich kein Grund zur Freude. Ebenso wenig ermutigend ist der Anblick der Renten im Verhältnis zum letzten Nettogehalt.
Die sogenannte Nettoersatzrate, von der die OECD Daten für mehrere europäische Länder berechnet hat, zeigt dies deutlich. Während niederländische Rentner im Jahr 2021 im Schnitt mit 89% ihres letzten Nettogehalts rechnen konnten, griechische mit 84%, italienische mit 82% und französische mit 74%, lag diese Rate in Deutschland bei bescheidenen 53%.
Ausblick auf 2050: Finanzprobleme und Alternativen
Das Umlageverfahren hat zwar viele Jahre gut funktioniert, doch diese Zeiten sind nun vorbei. Im Jahr 2050 wird voraussichtlich auf einen über 65-Jährigen weniger als zwei Berufstätige treffen. Anders ausgedrückt: Es wird nicht genügend Geld in die Kasse fließen.
Um die zukünftigen Ansprüche der Rentner dennoch zu erfüllen, müssten die Beiträge entweder deutlich erhöht oder die Regelaltersgrenze angehoben werden. Alternativ könnte es gelingen, ausreichend Erwerbstätige zu gewinnen, um das System zu stabilisieren.
Erwerbstätigkeit im Alter
Die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen in Deutschland hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die Erwerbstätigenquote der 60- bis 64-Jährigen stieg von 47 % im Jahr 2012 auf 63 % im Jahr 2022. Auch jenseits des Rentenalters arbeiten mehr Menschen; der Anteil der 65- bis 69-Jährigen stieg von 11 % im Jahr 2012 auf 19 % im Jahr 2022.
Es gibt geschlechtsspezifische Unterschiede: 67 % der Männer und 59 % der Frauen im Alter von 60 bis 64 Jahren waren erwerbstätig, während es bei den 65- bis 69-Jährigen 23 % der Männer und 16 % der Frauen waren.
Der Anstieg älterer Erwerbstätiger wird durch gesetzliche Änderungen, wie die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre seit 2012, und höhere Bildungsniveaus erklärt. Hochqualifizierte Personen waren mit 74 % erheblich häufiger erwerbstätig als Geringqualifizierte (50 %).
Für 40 % der Erwerbstätigen ab 65 Jahren war die Arbeit die Hauptquelle des Lebensunterhalts. Selbstständige spielen eine zunehmend wichtige Rolle, da 31 % der Erwerbstätigen ab 65 Jahren selbstständig waren, im Vergleich zu 13 % bei den 60- bis 64-Jährigen und 8 % im Durchschnitt aller Erwerbstätigen.
Prognostizierte Unsicherheit bis 2024
Es besteht die Möglichkeit, dass die Aussichten für die Rente besser sein könnten, als es einige skeptische Beobachter derzeit annehmen. Im Rentenversicherungsbericht von 2010 jedenfalls wurden die Zukunftsaussichten für Rentner etwas düsterer dargestellt, als es letztendlich eingetreten ist.
Die Regierung ging für 2024 von einem prognostizierten Rentenniveau von lediglich 46,2% aus. Zudem schätzte man, dass der Beitragssatz bis 2024 bereits auf 20,7% des Einkommens gestiegen sein würde.
Die Zukunft der Rente bleibt unsicher. Allerdings war den Verantwortlichen bereits vor 13 Jahren bewusst, dass „der Rückgang des Sicherungsniveaus vor Steuern deutlich macht, dass die gesetzliche Rente zukünftig allein nicht ausreichen wird, um den Lebensstandard des Erwerbslebens im Alter fortzuführen.“
Armutsgefährdung sowie materielle und soziale Entbehrung bei älteren Menschen
In Deutschland bezieht sich die Armutsgefährdung auf relative Armut im Vergleich zum mittleren Einkommen der Gesamtbevölkerung. Laut EU-SILC 2022 liegt die Armutsgefährdungsschwelle für alleinlebende Personen bei 15.000 Euro netto pro Jahr. 14,7 % der Bevölkerung und 18,3 % der Menschen ab 65 Jahren sind von Armut bedroht.
Frauen in allen Altersgruppen haben ein höheres Armutsrisiko als Männer, insbesondere im Alter. Ältere Frauen sind häufiger von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen als ältere Männer, was auf geringere Erwerbstätigkeit und Einkommen zurückzuführen ist.
Die allgemeine materielle und soziale Entbehrung ist bei Senioren seltener als bei Jüngeren, wobei im Jahr 2022 durchschnittlich 6,1 % der Bevölkerung, aber nur 3,5 % der 65-Jährigen und Älteren davon betroffen waren.