Der Salami-Raub als politische Aussage
Eine Scheibe Käse hier, ein paar Lachsfilets dort – was früher als klassischer Ladendiebstahl galt, wird heute von Teilen der US-Mittelschicht als Akt des Widerstands verkauft.
Im Zentrum: Amazon und dessen Gründer Jeff Bezos. Der neue Trend: gezieltes „Mikro-Stehlen“ von Whole Foods oder Rücksendebetrug bei Amazon – oft begleitet von einem moralischen Überbau.
Die Täter? Keine verzweifelten Existenzen, sondern gut situierte Angestellte, Tech-Mitarbeiter, Akademiker.
Ihr Argument: Wenn Konzerne Milliarden anhäufen und dabei Arbeitsrechte schleifen, sei ein bisschen Selbstbedienung gerechtfertigt. Die Täter inszenieren sich als digitale Robin Hoods – mit gestohlener Bioware im Beutel und dem Gefühl, das System ausgetrickst zu haben.
Ein Phänomen mit System – und Widerspruch
Die Reportage der US-Journalistin Emily Stewart dokumentiert eindrucksvoll: Es handelt sich nicht um Einzelfälle. Die interviewten „Anti-Amazon-Aktivisten“ stehlen gezielt von Bezos-Firmen – aber nicht von kleinen Einzelhändlern. Ihre Moral?
Selektiv. Ihre Rechtfertigung? Bezos sei zu reich, zu mächtig, zu gleichgültig.
Doch der ökonomische Realitätscheck fällt ernüchternd aus: Amazon spürt den Kleinschaden kaum – lokale Manager, Mitarbeiter und Drittanbieter hingegen schon. Rücksendebetrug führt dazu, dass kleine Händler defekte Ware ersetzt bekommen müssen.
Das Problem: Vielen Konsumenten ist gar nicht klar, dass Amazon nicht immer selbst verkauft, sondern oft nur vermittelt.
Opfer unsichtbar – Täter moralisch befreit
„Ich bin der Batman der Retouren“, sagt einer der Diebe – und meint das ernst. Er manipuliert Rücksendungen bei Amazon, tauscht benutzte Ware gegen neue aus. Er weiß, dass es illegal ist – aber sieht sich im Recht. Die Wut auf Konzerne ersetzt das Unrechtsbewusstsein.

Philosoph:innen sprechen von „kognitiver Entkopplung“: Wer sich oft genug erklärt, glaubt irgendwann an die eigene Unschuld.
Beobachter wie Emmeline Taylor, Kriminologin an der City University London, nennen es „moralische Gymnastik“. Die Täter machen sich selbst glauben, dass niemand zu Schaden kommt – obwohl dem längst nicht mehr so ist. Der wirtschaftliche Schaden durch „Shrink“, wie Händler den Verlust durch Diebstahl und Betrug nennen, geht in die Milliarden.
Der stille Preis des Protests
Die Unternehmen reagieren: In den USA werden Waren immer häufiger hinter Glas eingeschlossen, Kundenservice zurückgefahren, Rückgaberegeln verschärft.
Ironischerweise profitieren davon oft Online-Händler wie Amazon – Kunden weichen auf die bequemere Alternative aus. Das System, das viele bekämpfen wollen, wächst dadurch weiter.
Zudem führt der Diebstahl oft zu Kündigungen von Ladenpersonal oder zu stärkerer Überwachung in den Filialen. Die „kleine Rache“ an Bezos trifft am Ende selten den Milliardär – aber fast immer Menschen mit deutlich weniger Einfluss.
Ein neuer Moralbegriff? Oder nur billige Ausrede?
Die Rückkehr der politischen Aneignung – so könnte man das Phänomen in der Theorie nennen. Doch in der Praxis geht es selten um organisierte Aktion oder strukturelle Kritik.
Vielmehr scheint das Verhalten ein Ventil für das Gefühl zu sein, ohnmächtig und wirtschaftlich ausgebeutet zu werden. Der gestiegene Frust über wachsende Ungleichheit trifft auf eine Kultur der Sofortverfügbarkeit – und nutzt sie aus.
Das Problem: Die Täter nutzen moralische Rhetorik, um rein persönliche Vorteile zu rechtfertigen. Ob Tiktok-Content, Grillpartys mit gestohlenen Steaks oder billig erschlichene Elektronik – die Grenze zwischen Protest und Selbstbedienung verschwimmt.
Warum Bezos nicht der einzige Verlierer ist
Viele denken, sie träfen den „Mann da oben“. Doch der eigentliche Schaden entsteht anderswo: Händler wie der Outdoor-Ausrüster BattlBox berichten von gezieltem Retourenbetrug – und massiven Verlusten.
Kleinunternehmer, die auf Amazon angewiesen sind, tragen die Konsequenzen. Plattformlogik schützt die Täter, belastet die Schwächeren.
Und was sagt Amazon? Nichts. Konzernchef Andy Jassy winkte das Thema in einem Interview ab – zu groß, zu komplex, zu wenig relevant für das Gesamtergebnis. Analysten wie Arun Sundaram sehen das ähnlich. Amazon sei in vielen Bereichen so profitabel, dass selbst mehrere Monate mit „Gratis-Waren“ finanziell kein Desaster wären.
Doch genau diese Gleichgültigkeit wirkt wie ein Brandbeschleuniger: Wenn selbst massive Verluste ignoriert werden, steigt die Versuchung, sich unbemerkt zu bedienen – ganz ohne schlechtes Gewissen.
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