In einer Welt, die nach Energiehungersnöten ringt und sich nach nachhaltigen Lösungen sehnt, erlebt die Atomkraft ein Paradoxon. Laut dem frisch veröffentlichten World Nuclear Industry Status Report sank der Anteil von Atomstrom an der weltweiten Stromproduktion im Jahr 2022 auf neun Prozent.
Ein Rückgang von alarmierender Größe, vergleichbar mit dem Jahr nach der verheerenden Fukushima-Katastrophe von 2011.
Doch während in Deutschland die Diskussion um Atomkraft mit skeptischen Blicken geführt wird, verkünden auf der Weltklimakonferenz COP28 in Dubai 22 Staaten eine massive Ausweitung ihrer Investitionen in Atomkraft. Ein Spagat zwischen zwei Perspektiven auf die Zukunft der Atomenergie entsteht – und er wirkt größer denn je.
Harald Ebner, Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, betont: „Der Bericht ist ein wichtiger Faktencheck in Fake-News-Zeiten. Er räumt auf mit der fälschlicherweise ständig wiederholten Behauptung von der Rückkehr der Atomkraft.“
Doch in der Wüstenmetropole Dubai wird ein anderer Ton angeschlagen. Hier erklären Staaten, bis 2050 die Kapazitäten von Atomkraftwerken zu verdreifachen und fordern internationale Finanzinstitutionen auf, verstärkt in Atomkraft zu investieren.
Ein Vermögensverwalter, der anonym bleiben möchte, teilt mit: „Auf der COP28 gibt es dieses Jahr viel Schwung für die Kernenergie, das fühlt sich ganz anders an als noch vor ein paar Jahren.“
Deutschland und andere Teile der Welt scheinen auf unterschiedlichen Frequenzen zu senden, wenn es um Atomkraft geht. Die Gründe für die deutsche Zurückhaltung sind vielfältig.
Stefan Wenzel, parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, betont die Brennstoff-Versorgungsprobleme und die Abhängigkeit von Russland, insbesondere bei sogenannten Small Modular Reactors (SMR).
Simon Müller von der Denkfabrik Agora Energiewende mahnt an, dass die Herausforderung für die europäische Kernenergie darin besteht, eine alternde Flotte von Kernkraftwerken zu ersetzen. Doch der Zubau neuer Anlagen gestaltet sich als schleppend und kostspielig.
In diesem Jahr ging erstmals seit 20 Jahren in Europa ein neuer Reaktor in Finnland in Betrieb. Das französische Atomkraftwerk Flamanville kämpft derweil mit erheblichen Bauverzögerungen und explodierenden Kosten.
Marcel Fratzscher, Präsident des Wirtschaftsinstituts DIW, unterstreicht die finanziellen Aspekte: „Die Kernenergie ist eine extrem teure Energie, sie ist und wird auch in der Zukunft sehr viel teurer bleiben als erneuerbare Energien.“
Auch die politische Positionierung in Deutschland bleibt ambivalent. Die CDU setzt auf Technologien und Innovationen, nennt aber keine konkreten Pläne für die Nutzung von Atomkraft in Deutschland. Unternehmen vor Ort sorgen sich, dass Deutschland mit dem Verzicht auf Kohle- und Atomstrom Schwierigkeiten haben könnte, bezahlbaren Strom bereitzustellen.
Die Diskrepanz zwischen der deutschen Haltung zur Atomkraft und den weltweiten Entwicklungen wird immer offensichtlicher. Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamts, mag die Atomenergie als Technologie der Vergangenheit betrachten, aber er erkennt an, dass die Allianz der 22 Staaten auf der Weltklimakonferenz eine starke ist.
Warum also der globale Ruck in Richtung Atomkraft? Jens Burchardt von der Unternehmensberatung BCG erklärt dies mit unterschiedlichen Voraussetzungen.
„In China sind die Kosten für Atomkraftwerke vermutlich deutlich niedriger als hier. Das liegt an niedrigeren Arbeits- und Materialkosten, Sicherheitsstandards, aber auch deutlich größerer Erfahrung mit dem Bau dieser Kraftwerke.“
Die Chinesen haben in den letzten Jahrzehnten mehr Erfahrung im Bau von Atomkraftwerken gesammelt als die Europäer. In Schwellenländern ist der Druck höher, mit allen Mitteln Strom für die wachsende Nachfrage zu erzeugen, während erneuerbare Energien nicht überall leicht umsetzbar sind.
In der globalen Energiewende wird die Atomkraft laut Burchardt nicht den zentralen Faktor spielen. "In 'Net-Zero-Szenarien' hat die Atomkraft im Jahr 2050 maximal einen Anteil von unter zehn Prozent an der weltweiten Stromerzeugung." Der Ausbau erneuerbarer Energien sei entscheidend schneller.
Die Chefin des Energiebranchenverbands BDEW, Kerstin Andreae, fordert in der deutschen Debatte Pragmatismus.
„In Deutschland ist die Entscheidung zum Atomausstieg gefallen. Die Bundesregierung muss sich jetzt den notwendigen Entscheidungen für eine sichere, bezahlbare und klimafreundliche Energieversorgung widmen. Dazu gehört auch dringend eine Grundlage für den Aufbau von neuen Gaskraftwerken.“