10. April, 2025

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Abtreibungen auf Rekordhoch – und keiner redet darüber

Über 106.000 Schwangerschaftsabbrüche, ein Zehnjahreshoch – doch während die Zahlen steigen, bleibt der öffentliche Diskurs erstaunlich leise. Was hinter dem Anstieg steckt, welche Altersgruppen besonders betroffen sind – und was das über unsere Gesellschaft verrät.

Abtreibungen auf Rekordhoch – und keiner redet darüber
Mit über 23.000 Fällen führt Nordrhein-Westfalen die Statistik an – fast jede vierte Abtreibung in Deutschland findet dort statt.

Über 106.000 Frauen entschieden sich 2024 in Deutschland für einen Schwangerschaftsabbruch – so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Und doch: Kein Aufschrei. Keine breite gesellschaftliche Debatte.

Kein medialer Sturm. Während andere Themen zuverlässig Empörung erzeugen, bleibt es rund um die steigenden Abtreibungszahlen still. Dabei offenbart der nüchterne Blick in die Statistik mehr als nur eine medizinische Entscheidung – er zeigt, wie sehr sich gesellschaftliche Realitäten verschieben.

Ein stiller Rekord

Laut dem Statistischen Bundesamt stieg die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche im Vergleich zum Vorjahr um 0,2 Prozent – was auf den ersten Blick marginal wirkt, aber im Zehnjahresvergleich ein deutliches Bild zeichnet: 6.740 zusätzliche Abbrüche seit 2014, ein Anstieg von rund sieben Prozent. Keine extreme Kurve, kein sprunghafter Ausbruch – aber ein konstanter, unübersehbarer Trend.

Besonders auffällig ist, welche Altersgruppen den Zuwachs tragen: Während bei jungen Frauen unter 25 die Zahlen rückläufig sind, steigt die Zahl der Abbrüche bei Frauen zwischen 30 und 44 Jahren massiv an. In der Altersgruppe 35 bis 39 beträgt das Plus sogar fast 17 Prozent innerhalb eines Jahrzehnts.

Die überwiegende Mehrheit der Abtreibungen erfolgt nicht wegen Krankheit oder Vergewaltigung – sondern als selbstbestimmte Entscheidung nach Beratung.

Abtreibung als Ausdruck gesellschaftlicher Verschiebungen

Was auf dem Papier wie eine einfache Altersverlagerung erscheint, spiegelt tiefer liegende Dynamiken wider. Die Zahl junger Frauen in Deutschland sinkt – das hat demografische Gründe. Doch dass gleichzeitig immer mehr Frauen im "klassischen Familiengründungsalter" zu Abbrüchen greifen, wirft Fragen auf.

Ist es die ökonomische Unsicherheit, die viele trotz stabiler Partnerschaft oder Ehe (immerhin 38 Prozent der Betroffenen sind verheiratet) zur Abtreibung bewegt? Der Wunsch nach Autonomie? Oder schlicht die Erkenntnis, dass Kind und Karriere, in vielen Fällen, nach wie vor schwer vereinbar bleiben?

Die Daten legen nahe, dass Schwangerschaftsabbrüche heute weniger mit jugendlicher Leichtsinnigkeit als mit bewussten Entscheidungen zu tun haben – Entscheidungen, die oft in einem komplexen Geflecht aus wirtschaftlichen, beruflichen und sozialen Faktoren getroffen werden.

Die Realität hinter den Zahlen

96 Prozent aller Abbrüche erfolgen nach der sogenannten Beratungsregelung – das heißt: keine medizinische Indikation, keine Vergewaltigung, sondern der Entschluss der Frau nach einem Pflichtgespräch.

In Berlin kommen auf 1.000 Frauen im gebärfähigen Alter rund 12 Abtreibungen – so viele wie in keinem anderen Bundesland. Der Bundesschnitt liegt bei etwa 7.

Nur vier Prozent aller Fälle fallen unter die Ausnahmen. Das legt nahe, dass Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland zum allergrößten Teil nicht aus Not, sondern aus Abwägung erfolgen.

Der Eingriff selbst ist medizinisch weitgehend standardisiert: Knapp die Hälfte der Frauen entscheidet sich für die Absaugmethode, rund 41 Prozent für die medikamentöse Variante mit dem Wirkstoff Mifegyne.

Acht von zehn Abbrüchen erfolgen innerhalb der ersten beiden Schwangerschaftsmonate. Doch über 3.000 Frauen ließen 2024 auch noch nach der zwölften Woche abtreiben – in einem Stadium, in dem das Herz des Embryos längst schlägt.

Ein Thema ohne Lobby?

Bemerkenswert ist, wie sehr das Thema Abtreibung in der öffentlichen Diskussion an Schärfe verloren hat. Während in den USA oder Polen erbitterte Kulturkämpfe um den Zugang zu Abbrüchen toben, scheint in Deutschland eher das Gegenteil der Fall: ein kollektives Schweigen.

Weder Parteien noch Verbände haben das neue Zehnjahreshoch zum Anlass genommen, eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen – weder für mehr Schutz des ungeborenen Lebens noch für einen erleichterten Zugang zum Abbruch.

Vielleicht, weil sich niemand die Finger verbrennen will. Vielleicht, weil beide Seiten wissen, dass die Realität viel komplexer ist als ein moralisches Schwarz-Weiß. Oder vielleicht auch, weil sich der gesellschaftliche Konsens längst verschoben hat: hin zu mehr Selbstbestimmung, mehr Pragmatismus, mehr Realitätssinn.

Ein gesellschaftliches Barometer

Interessant ist auch die geografische Verteilung. Mit über 23.000 Fällen liegt Nordrhein-Westfalen unangefochten an der Spitze, gefolgt von Bayern, Baden-Württemberg und Berlin.

Unterschiede, die weniger mit Kultur als mit Bevölkerungsdichte und medizinischer Infrastruktur zu tun haben dürften – und doch: Auch hier bliebe Raum für genauere Analysen. Denn wie leicht oder schwer der Zugang zu einem Abbruch ist, unterscheidet sich regional erheblich.

Was bleibt

Mehr als 106.000 Schwangerschaftsabbrüche – und trotzdem keine Welle der Empörung, keine ernsthafte politische Reaktion, kein öffentlicher Aufruhr. Vielleicht ist genau das die eigentliche Nachricht hinter den Zahlen: Dass Abtreibung in Deutschland heute nicht mehr das ist, was es früher war – ein Tabu, ein Politikum, ein Skandal.

Sondern: eine Entscheidung. Eine stille, persönliche, oft schwerwiegende – aber eben auch gesellschaftlich weitgehend akzeptierte.

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