Wenn Städte rechnen müssen – und der Bund nicht liefert
Eine siebenköpfige Familie bekommt laut Bescheid über 6.000 Euro Bürgergeld im Monat, eine Stadt wie Tübingen erhält aus einem 100-Milliarden-Bundestopf gerade mal vier Millionen Euro.
In der Talkshow bei Markus Lanz war es eine Zahl, die hängen blieb – und ein Systemfehler, den man nicht mehr übersehen kann.
Boris Palmer, Tübingens Oberbürgermeister und längst zum politischen Einzelgänger avanciert, spricht das aus, was viele Kommunen seit Monaten beschäftigt: explodierende Sozialausgaben, lähmende Bürokratie, leere Kassen.
„Das ist ein Fahren an die Wand“, sagt Palmer – und trifft damit einen Nerv.
Kommunen im Würgegriff: zu viele Pflichten, zu wenig Mittel
Mit ihm im Studio: Bürgermeister und Landräte verschiedenster Couleur, die alle das Gleiche berichten – es fehlt nicht an Engagement, sondern an Spielraum.
Investitionen? Kaum möglich. Kitabau? Dauert Jahre. Infrastruktur? Marode. Gleichzeitig wächst der Druck, immer neue Leistungen zu finanzieren, oft ohne klare Gegenfinanzierung durch Land oder Bund.
„Immer neue Aufgaben, aber kein Geld dafür“, bringt es CDU-Kommunalpolitiker Achim Brötel auf den Punkt – und zitiert Ministerpräsident Kretschmann mit einem Bild, das sitzt: „Ein wildes Brombeergestrüpp. Man kommt kaum noch an die Früchte.“

Palmer wird konkret – und trifft damit ins Zentrum der Debatte
Der Ton wird schärfer, als es ums Bürgergeld geht. Palmer nennt ein Beispiel, das polarisiert: Eine Familie mit hoher Kinderzahl, sehr teurer Wohnung – und einem staatlichen Gesamttransfer von 6.000 Euro im Monat. „Da muss man auch mal sagen: Umziehen wäre vielleicht sinnvoller, als das komplett zu alimentieren“, so Palmer.
Was zunächst wie eine Einzelanekdote wirkt, verweist auf ein strukturelles Problem: Gute Absichten in der Sozialpolitik führen immer häufiger zu systemischer Überforderung – gerade dort, wo das Geld ohnehin knapp ist.
Die Ampel in Berlin schweigt – und die Kommunen wanken
Die Bundesregierung? Reagiert bisher kaum. Dabei sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Das Haushaltsdefizit der deutschen Kommunen hat sich binnen eines Jahres fast vervierfacht – von 6,6 Milliarden auf 24,8 Milliarden Euro. Ein Kraftakt, den nicht einmal die robustesten Kommunalhaushalte lange durchhalten.
SPD-Bürgermeisterin Jutta Steinruck schildert es plastisch: Ludwigshafen ist mit über einer Milliarde Euro verschuldet – Investitionen in Schulen oder Kindergärten sind „faktisch nicht mehr möglich“.
Und wenn Geld fließt, dann zu spät oder zu bürokratisch: Tübingen etwa bekommt aus einem 100-Milliarden-Sondertopf des Bundes ganze vier Millionen. „Das ist Zechprellerei“, sagt Palmer. Und meint: Der Staat bestellt – zahlen sollen andere.
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Sozialstaat oder Selbstaufgabe?
Der Sozialstaat, so Palmer, müsse dringend zurück zu seinem Kern: akute Notlagen absichern, nicht Lebensrisiken unbegrenzt übernehmen. „Wir können nicht jedes Risiko auf der Welt kollektiv absichern“, sagt er. Brötel fordert gar offen Kürzungen – beim Bürgergeld, beim Elterngeld, bei der Mütterrente.
Es sind Sätze, die noch vor wenigen Jahren politische Karrieren hätten beenden können. Heute lösen sie Applaus aus. Nicht nur bei Lanz – auch in Rathäusern, die nicht mehr wissen, wie sie das nächste Haushaltsjahr überstehen sollen.
Ein System auf Kante genäht
Neben der Finanzierung ist es vor allem die Bürokratie, die für Frust sorgt. Palmer nennt absurde Vorschriften: Schulungen für Fuhrparkmitarbeiter, Inspektionspflichten für Ladegeräte.
SPD-Kollege Oliver Schmidt-Gutzat berichtet vom fünfjährigen Bau einer Kita. Steinruck bringt ein 13 Jahre dauerndes Brückenprojekt ins Spiel. Der Befund ist eindeutig: Die Bürokratie ist nicht mehr Ausdruck von Sorgfalt – sie ist längst Ausdruck von Handlungsunfähigkeit geworden.